Gerettet aus dem Meer, und dann?

Brüssel · Gegen die Praxis des Durchwinkens: Kritiker halten das Umsiedlungsprogramm der EU für gescheitert - die Kommission hält dagegen.

Brüssel. Die Idee war einleuchtend. Es ging darum, die Praxis des Durchwinkens von Flüchtlingen durch die Beamten von besonders belasteten Staaten in der EU Richtung Norden zu unterbinden und wieder zu einem geordneten Asylverfahren zu kommen. Daher beschlossen die Minister der 28 EU-Staaten erstmals im September 2015 einen auf zwei Jahre befristeten Notfallmechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen in der EU. Eigentlich, so sieht es das sogenannte Dublin-Regelung vor, müssen sie in dem Land ihren Asylantrag stellen, in dem sie erstmals EU-Boden betreten. Da vor allem Griechenland, aber auch Italien auf Grund der Fluchtrouten über das Mittelmeer besonders belastet sind, haben die anderen Mitgliedstaaten beschlossen, Italien und Griechenland zu entlasten und ihnen insgesamt bis zu 160 000 Asylbewerber abzunehmen.

Die zwei Jahre sind in wenigen Tagen herum. Zeit, Bilanz zu ziehen. Die nackten Zahlen sind für viele ernüchternd: Bisher sind 27 428 Asylbewerber aus Italien und Griechenland auf andere Mitgliedstaaten umverteilt worden (Stand Donnerstag). Kritiker werten diese Zahl als Beleg dafür, dass das Umverteilungsprogramm gescheitert ist. Schließlich ist dies nicht einmal ein Fünftel von den 160 000, die ursprünglich angepeilt wurden. Doch wer so urteilt, macht es sich zu einfach. Die Lage ist komplizierter. Die Zahl 160 000 war damals als Obergrenze eingezogen worden. Niemand hat versprochen, dass tatsächlich so viele Menschen auch binnen Zweijahresfrist umverteilt werden. In der Praxis hat man erkennen müssen, dass in Griechenland und Italien gar nicht so viele Flüchtlinge angekommen sind, wie ursprünglich angenommen. So schätzt die EU-Kommission, dass aktuell noch rund 3800 Menschen in Griechenland sind, die auf die Umverteilung warten.

In Italien ist die Lage etwas anders: Dort kommen täglich neue Flüchtlinge an, die für die Umverteilung infrage kommen. Italiens Außenminister Angelino Alfano wettert: "Die Umverteilung funktioniert nicht, die Flüchtlinge bleiben in Italien." In Brüssel sieht man es freilich anders: 8212 Flüchtlinge sind aus Italien auf die anderen Mitgliedsländer umverteilt worden.

Und: Nach Lesart der Kommission kommen die italienischen Behörden mit der Registrierung der Flüchtlinge nicht hinterher. So geht man davon aus, dass rund 10 000 Eritreer - eigentlich Kandidaten für die Umverteilung - in Italien noch nicht registriert worden sind. Es ist wichtig zu wissen: Nur die wenigsten von den Flüchtlingen, die in diesem Sommer von Libyen über die zentrale Mittelmeer-Route nach Italien gekommen sind, kommen für die Umverteilung infrage. Hintergrund ist, dass nur diejenigen Flüchtlinge umverteilt werden, die auch eine Chance darauf haben, letztlich als politisch Verfolgte Anerkennung zu bekommen. Umverteilt werden nur Menschen aus Ländern, die in den letzten drei Monaten Anerkennungsquoten von 75 Prozent und mehr haben. Das sind derzeit Länder wie Syrien, Eritrea, Bahamas, Bahrein, Bhutan, Katar und Jemen. Die meisten Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute kommen aber aus Ländern wie Nigeria, Senegal und Guinea, aber auch Bangladesch und Pakistan und haben damit wenige Chancen auf Asyl in der EU.

Hinzu kommt, dass Italien selbst tätig geworden ist und versucht, die Zahl der Flüchtlingsboote zu reduzieren: Seit Februar diesen Jahres unterstützt Italien unter Ministerpräsident Paolo Gentiloni die libysche Küstenwache logistisch und technologisch - ein Engagement, das auf Anfrage der international anerkannten libyschen Übergangsregierung von Fajis al-Sarradsch Anfang August ausgeweitet wurde. Ende August hatte der italienische Innenminister Marco Minniti außerdem eine Übereinkunft mit 14 libyschen Bürgermeistern sowohl im Norden als auch im Süden des Landes getroffen: Die Städte erhalten Geld für den Ausbau ihrer Infrastruktur und sagen im Gegenzug zu, sich im Kampf gegen Schlepper und Menschenhändler stärker zu engagieren.

Zurück zum Instrument der Umverteilung. Darum hat sich in der EU ein brisanter politischer Streit entzündet. Er hat das Zeug, zu einem tiefen Riss in der Gemeinschaft zu führen. Die Konfrontation verläuft zwischen Ost und West. Polen, Tschechien und Ungarn stimmten seinerzeit im Ministerrat dagegen, wurden aber von den anderen überstimmt. Sie verweigern sich, Polen und Ungarn haben bislang keinen einzigen Flüchtling aufgenommen, Tschechien zwölf. Andere Osteuropäer wie Rumänien, Slowakei, aber auch Österreich machen nur auf dem Papier mit. Sie nehmen nur so viele Flüchtlinge auf, um so eben ein Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden. Gegen die drei Totalverweigerer aus Budapest, Prag und Warschau hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Fronten sind völlig verhärtet. Eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) scheint derzeit unabwendbar. Deutschland hat mit 7662 Flüchtlingen am meisten aufgenommen, Frankreich kommt auf 4278, Österreich auf 15, Luxemburg dagegen auf 382.

Und nun? Was passiert, wenn das Programm Ende September ausläuft? Die Pflicht der Mitgliedstaaten, sich an der Umverteilung zu beteiligen, endet damit nicht. Alle Menschen, die die Kriterien erfüllen und noch bis zum 26. September in Griechenland und Italien ankommen, kommen für das Programm infrage. Und danach? Die EU-Kommission hat den Mitglied- staaten Vorschläge unterbreitet, um das Asylsystem in der EU zu reformieren.

Im Grunde soll es bei der Dublin-Regelung bleiben, dass politisch Verfolgte in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie erstmals EU-Boden betreten. Wenn dann eine akute Flüchtlingskrise auftritt, soll es für jeden Staat definierte Obergrenzen bei der Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge geben. Und wenn diese Zahlen erreicht sind, sollen alle Menschen, die darüber hinaus ins Land kommen, nach einem Schlüssel auf die anderen, nicht so belasteten Länder verteilt werden.

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