Glasnost im Vatikan

Überraschung im Vatikan: Papst Benedikt XVI. hat einen der schärfsten Kirchenkritiker zum Plauderstündchen empfangen – den von Rom geächteten Tübinger Theologen Hans Küng.

Überraschung im Vatikan: Papst Benedikt XVI. hat einen der schärfsten Kirchenkritiker zum Plauderstündchen empfangen - den von Rom geächteten Tübinger Theologen Hans Küng. Jenen Mann, dem Benedikts Vorgänger Johannes Paul II. vor einem Vierteljahrhundert die Lehrerlaubnis entzog, weil er das Unfehlbarkeits-Dogma in Frage stellte; jenen Mann, der immer wieder vehement die grundlegende Erneuerung der Amtskirche forderte; jenen Mann, der die Wahl des Kardinals Ratzinger zum Papst vor einem halben Jahr als "Riesenenttäuschung" für alle Katholiken auf Reformkurs bezeichnete. Im Mittelalter wäre Küng vermutlich der Inquisition zum Opfer gefallen und als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet. Und nun: Einladung in die päpstlichen Gemächer, gemütliches Beisammensein, Gedankenaustausch.Eine große Geste - und ein kluger Schachzug der vatikanischen PR-Experten: Benedikt, der knallkonservative Kleriker und Wächter der reinen Lehre, bestenfalls ein Übergangs-Papst, kein Erneuerer, pflegt den Dialog mit Andersdenkenden. Das passt zur Glasnost-Strategie, zur Öffnung des Kirchenstaats, der nicht nur den Blick in jahrhundertelang streng gehütete Archive freigibt, sondern auch das qualvolle Sterben von Johannes Paul II. dokumentiert oder die Wahlergebnisse aus dem Konklave durchsickern lässt. Das Ende der Geheimniskrämerei!? Der Deutsche auf dem Stuhl Petri kommt an, ja, er begeistert, wie jüngst beim Weltjugendtag in Köln, die Massen. Wie sein Vorgänger (und Vorbild) ist er in den Medien präsent. Seine Wahl entfachte in Deutschland die "Wir-sind-Papst"-Euphorie, während die britische Presse ihn als "Hitlerjungen" begrüßte; die Nachrichten überschlugen sich, als der alte "Papst-Golf" bei Ebay versteigert wurde; oder als es hieß, er sei mit Ex-Nationalspieler Paul Breitner verwandt. Längst ist Benedikt eine Kultfigur, in Marktl am Inn brauen sie ein Papstbier. Ja, er machte Schlagzeilen - auf dem Boulevard.

Inhaltlich war vom neuen Papst zunächst so gut wie nichts zu hören. Benedikt ließ erkennen, dass er an seiner rigiden Sexualethik festhält und die Schwangerenkonfliktberatung ablehnt. Wenig mehr. Dass er das Zölibat aufhebt, Frauen zu Priestern weiht oder eine Kirchengemeinschaft mit den protestantischen Schwestern und Brüder anschiebt, wäre die größte Sensation, seit Moses trockenen Fußes durchs Rote Meer spazierte.

Das Papsttum ist die älteste und erfolgreichste Institution der Erde; sie ist es, weil sie sich nie dem Zeitgeist gebeugt hat. Aber sie signalisiert, dass sie bereit ist, sich behutsam zu öffnen. Benedikt XVI. widerlegt viele Vorurteile und versetzt seine Kritiker in Erstaunen. Und er bewegt sich doch.

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