Gregor Gysi zelebriert seinen Rückzug

Bielefeld · Gregor Gysi hat die Linke wie kaum ein anderer geprägt. Beim Linken-Parteitag in Bielefeld verkündete der 67-Jährige gestern seinen Rückzug. Er wird nicht mehr für den Fraktionsvorsitz kandidieren. Ganz verabschiedet er sich aber wohl noch nicht.

Es ist Sonntagmittag kurz vor halb zwei, als das Gemurmel in der Bielefelder Stadthalle schlagartig abbricht. Gregor Gysi kommt schon im ersten Satz seiner mit Hochspannung erwarteten Rede auf den Punkt: "Heute spreche ich letztmalig als Vorsitzender unserer Bundestagsfraktion auf einem unserer Parteitage." Er werde im Herbst nicht mehr für das Amt kandidieren. Totenstille im Saal. Gysi greift zum Wasserglas, als müsste er selbst erst einmal das Gesagte sacken lassen. Die Parteitagsdelegierten spüren, hier neigt sich eine Ära ihrem Ende.
Der 67-Jährige hat die Linke geprägt. Bereits 1990 wurde er Vorsitzender der Bundestagsgruppe der PDS, die das Erbe der DDR-Staatspartei SED angetreten hatte. 15 Jahre später startete Gysi richtig durch, als er gemeinsam mit Oskar Lafontaine eine gesamtdeutsche Linksfraktion anführte. Seit Oktober 2009 steht er allein an der Spitze. Nun müssen zwei andere seinen Job machen. Denn dass es eine Doppelspitze nach seinem Abgang geben würde, steht schon länger fest. Allein, komplett will sich Gysi nicht zurückziehen: "Die Frage, ob ich 2017 versuche, erneut für den Bundestag zu kandidieren, kann ich heute noch nicht beantworten." Es klingt wie ein Abschied auf Raten.
Gysis Rede ist ein Vermächtnis. Er gibt den Delegierten eine Art rot-rot-grüne Agenda mit auf den Weg. Dazu gehört aus seiner Sicht, dass die Linke bei möglichen Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene kompromissbereit sein müsse und ihre Ablehnung aller Bundeswehreinsätze im Ausland überdenken solle.
Welten zwischen Linken und SPD
An solchen Stellen fällt der Beifall spärlich aus. Kein Wunder, denn der Bielefelder Parteitag ist über weite Strecken ein hartes Kontrastprogramm zu Gysis Beschwörungen. Als Bodo Ramelow, erster Linken-Ministerpräsident in Thüringen, am Tag zuvor darauf hinweist, dass Regieren kein Selbstzweck sei, schlägt ihm höhnisches Gelächter entgegen. Und als Sahra Wagenknecht, die Ikone des radikalen Parteiflügels, kein gutes Haar an der SPD lässt ("Die Linke ist ganz sicher nicht gegründet worden, um in dieser trüben Brühe mitzuschwimmen"), und Parteichef Bernd Riexinger die Sozialdemokraten als eine Art Abrissbirne des Sozialstaats brandmarkt, gibt es stürmischen Applaus.
Dass Linke und SPD noch Welten trennen, zeigt sich im sozialpolitischen Beratungsteil des Parteitags. "20 bis 30 Arbeitsstunden" pro Woche seien "vollkommen ausreichend", befindet Co-Chefin Katja Kipping. Im verabschiedeten Leitantrag des Vorstands heißt es: "Eine kollektive Form der Arbeitszeitverkürzung sind weitere gesetzliche Feiertage." Angeregt werden zudem "zwei flexibel zu nehmende Sabbatjahre". Und als wäre das nicht genug, diskutieren die Delegierten über ein "bedingungsloses Grundeinkommen" von monatlich 1080 Euro, was nach Berechnungen der Befürworter netto 863 Milliarden Euro kosten würde. Das ist fast dreimal so viel wie der laufende Bundeshaushalt. Da klingt es unfreiwillig komisch, wenn Gysi feststellt: "Viel zu wenig wird mit uns eine funktionierende Wirtschaft verbunden. Das muss sich ändern."
Am Ende stehen Gysi Tränen in den Augen. Die Delegierten erheben sich und spenden fast zehn Minuten lang Beifall. Als Gysis Nachfolger werden seit längerem Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch als prominenter Vertreter des Realo-Flügels gehandelt. Wie es derweil um die Autorität der Vorschlagsberechtigten Kipping und Riexinger steht, mag eine auf dem Parteitag kolportierte Episode illustrieren: Demnach haben die beiden bis zum letzten Freitag nicht einmal gewusst, das Gysi sich zurückzieht.

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