Grünen-Chef Cem Özdemir warnt im Interview vor Rückfall in nationalstaatliches Denken

Für ihre Flüchtlingspolitik konnte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bislang stärker auf die Unterstützung von SPD und Grünen zählen als auf die der eigenen Reihen. Inzwischen gehen die Sozialdemokraten jedoch auf Distanz. Und die Grünen? Unser Korrespondent Stefan Vetter sprach darüber mit Parteichef Cem Özdemir.

Herr Özdemir, stehen die Grünen noch hinter Merkels Flüchtlingskurs?
Cem Özdemir: Wenn damit gemeint ist, ob wir hinter dem Chaos in der Koalition stehen und der Unfähigkeit, dafür zu sorgen, die Flüchtlinge vernünftig zu registrieren und ihre Verfahren endlich zu verkürzen, dann mit Sicherheit nicht. Wenn damit aber die Entscheidung der Kanzlerin vom letzten September gemeint ist, Menschen, die damals dringend um Aufnahme gebeten haben, zu uns kommen zu lassen, dann stehen wir nach wie vor dazu.
Aber es wird langsam einsam um Merkel, weil der Flüchtlingsstrom seit dieser Entscheidung praktisch ungebremst anhält.
Özdemir: Was wäre denn damals die Alternative gewesen? Den westlichen Balkan zusammenbrechen zu lassen? Wahr ist aber auch: Als etwa Italien um Hilfe wegen der Flüchtlinge auf Lampedusa bat, zeigte Deutschland die kalte Schulter. Das erhöht sicher nicht die Bereitschaft der anderen EU-Staaten, jetzt mit Berlin solidarisch zu sein, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Ohne wirksame Kontrolle an den EU-Außengrenzen wird das jedenfalls nicht funktionieren. Wir brauchen dringend eine vernünftige Registrierung und Sicherheitsüberprüfung. Wenn wir Schengen bewahren wollen, müssen wir wissen, wer kommt. Gleichzeitig müssen wir die Fluchtursachen europäisch angehen.
Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland in diesem Jahr verkraften? 200 000, wie die CSU sagt, oder eine halbe Million, wie es in der SPD heißt?
Özdemir: Ich halte nichts von solchen Zahlenspielen. Klar ist, dass wir auf Dauer nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen können. Wir brauchen die Hilfe unserer Partner in Europa und wer keine Flüchtlinge aufnehmen kann oder will, muss sich an den Kosten beteiligen.
Unser Ziel müsste es eigentlich sein, dass gar keine Asylbewerber und Flüchtlinge kommen, denn keiner sollte sein Heimatland wegen Not oder Folter verlassen müssen. Aber da haben wir noch einen langen Weg vor uns.
Die Union will jetzt auch Algerien und Marokko zu sicheren Drittstaaten erklären. Die SPD zeigt sich offen. Aber für eine Mehrheit im Bundesrat muss auch ein Land mit grüner Regierungsbeteiligung zustimmen ...
Özdemir: Die Bundesregierung bleibt den Beweis schuldig, dass die Ausweitung von sicheren Herkunftsstaaten zu einer deutlichen Reduzierung der Flüchtlingszahlen führt. Das wird erst passieren, wenn es mit Staaten wie Marokko oder Algerien funktionierende Rücknahmeabkommen gibt.
Denn wenn diese Länder sich dagegen sperren, ihre Bürger zurückzunehmen, nützen auch die schärfsten Gesetze und Verordnungen nichts.
Eine europäische Lösung ist nicht in Sicht. In der Union sind immer mehr Mitglieder dafür, die Grenzen dichtzumachen. Was heißt das eigentlich für eine immer wieder diskutierte schwarz-grüne Option im Bund?
Özdemir: Ich diskutiere jetzt nicht die Koalitionsaussichten für 2017. Es muss doch jetzt darum gehen, einen Rückfall Europas in altes nationalstaatliches Denken zu verhindern. Wenn Deutschland zu nationalen Grenzkontrollen zurückkehrt, dann werden wir uns noch alle wundern, was das auch wirtschaftlich bedeutet.
In einer aktuellen Umfrage ist die AfD erstmals stärker als Ihre Partei. Beunruhigt Sie das?
Özdemir: Ich habe Protestparteien kommen und gehen gesehen. Auch bei der AfD lässt sich festhalten: Wenn man versucht, ihr nach dem Munde zu reden, dann macht man sie nur stärker. vet

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