Grund zur Freude?

Man würde sich ja so gern freuen: Über die Steuerreform, über das Aufbruch-Signal, über das Ende des politischen Gewürges. Doch gute Laune will sich, trotz ernsthaften Bemühens, nicht so recht einstellen bei der Betrachtung eines Kompromisses, den beide Seiten als Erfolg verkaufen wollen. Dafür hatte die denkwürdige Nacht im Vermittlungsausschuss zuviele Facetten, dafür ist die Lage auch am Tag danach noch zu unübersichtlich. Und dafür ist - die eigentliche Enttäuschung - die jetzt beschlossene Steuerentlastung einfach zu bescheiden. Das Paket ist dermaßen komplex, und die Problematik so vielschichtig, dass eine seriöse Gesamtbewertung außerordentlich schwer ist. Gewiss freuen sich die Leute über den kleinen Steuernachlass. Und sicher ist es prima, wenn die maroden Gemeindefinanzen zumindest ansatzweise saniert werden. Auch nehmen die Menschen aufatmend zur Kenntnis, dass die Streithähne von Berlin offenbar doch noch in der Lage sind, sich zu arrangieren. Aber sie sehen auch die Kehrseite der Medaille: Die Eigenheimzulage wird deutlich reduziert, die Pendlerpauschale gekürzt, der Kündigungsschutz gestutzt, der Niedriglohnsektor geöffnet. Mag alles wichtig und richtig sein, um den Standort Deutschland aufzupolieren - doch die Freude über den Abbau von Rechten und Vergünstigungen hält sich naturgemäß in Grenzen. Soll man das Ergebnis der Vermittlung nun also positiv oder negativ bewerten? Die Antwort ist scheinbar paradox - denn beides trifft zu. Sie ähnelt in ihrer Logik der Antwort, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist. Kommt eben auf den Betrachter an. Nach Ansicht des Kommentators wirkt es eher halb leer - weil man mehr erwartet hatte. Der Vorgang erinnert in seinem Enttäuschungs-Charakter an den Beschenkten, der sich zu Weihnachten einen Kaschmir-Pulli wünscht, aber ein Polyester-Teil bekommt. Immerhin hat der Kanzler Grund zur Freude, konnte er doch sein Reformpaket trotz enormer Widerstände durchbringen. Eine Leistung, die ihm vor einem Jahr niemand zugetraut hätte. Auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel darf zufrieden sein. Sie hat mit ihrem uneitlen Charme den Herren Kollegen den Weg gewiesen und maßgeblich zur Kompromissfindung beigetragen. Das alles zeigt: Deutschland und seine Politiker sind besser als ihr Ruf. Das schwerfällige Land scheint doch noch reformfähig. Ob daraus auch der ersehnte Impuls erwächst, der die Konjunktur antreibt und endlich wieder für eine positive Grundstimmung sorgt, bleibt dennoch fraglich. Denn der Steuernachlass schmilzt nach der Verrechnung mit den vereinbarten "Grausamkeiten” dahin wie Schnee in der Sonne. Richtig gut wird die Lage erst, wenn aus diesem Befund die richtige Schlussfolgerung gezogen wird: Wenn der psychologische Effekt der Reformen nicht schon nach kurzer Zeit wieder verpuffen soll, sind weitere Maßnahmen unabdingbar: So schnell wie möglich muss eine echte Steuerreform her (Modell Uldall, Kirchhof, Merz), die dem Anspruch von Logik und Transparenz gerecht wird. Und so schnell wie möglich muss die Föderalismus-Kommission überzeugende Ergebnisse vorlegen. Nur dann kann der zänkische Zirkus um Kohle und Kompetenzen auf ein erträgliches Maß reduziert und eine klare Verantwortlichkeit in Deutschland wieder herstellt werden. nachrichten.red@volksfreund.de

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