Hat US-Präsident Obama die Welt belogen?

Washington · Die neuen Enthüllungen des 78-jährigen amerikanischen Journalisten Seymour Hersh sorgen für Aufsehen: Demnach soll Osama bin Laden seit 2006 Gefangener des pakistanischen Geheimdienstes gewesen sein, der ihn 2011 den Amerikanern überließ.

Wenn es stimmt, was Seymour Hersh schreibt, dann muss das Oval Office in allen wichtigen Punkten korrigieren, was es vier Jahre lang über das Kommandounternehmen gegen Osama Bin Laden verlauten ließ. Dann wäre auch Kathryn Bigelows preisgekrönter Film "Zero Dark Thirty" reine Fiktion, dann hätte der Kurier Abu Ahmad al-Kuwaiti, der die Terrorfahnder nach der gängigen Version auf die Spur des Al-Qaida-Paten führte, praktisch keine Rolle gespielt.

Nach Seymour Hersh war vielmehr alles ein abgekartetes Spiel. Demnach entschied der pakistanische Geheimdienst ISI nach Abwägung aller Faktoren, Bin Laden den Amerikanern zu überlassen.

Die Story, wie sie das Weiße Haus erzähle, könnte genauso gut von Lewis Carroll stammen, dem literarischen Vater von "Alice im Wunderland", fasst der Reporter das Ergebnis seiner Recherchen im "London Review of Books" zusammen. Die größte Lüge sei es, zu behaupten, dass die Pakistanis nicht eingeweiht waren, als eine Spezialeinheit der Navy Seals im Mai 2011 nach Abbottabad flog, um Bin Laden zu töten. In Wahrheit hätten Ashfaq Kayani und Ahmed Shuja Pasha, der Generalstabschef der Armee und der Direktor des ISI, nicht nur Bescheid gewusst, sondern auch angewiesen, den Angreifern keine Hindernisse in den Weg zu stellen.

Die Regierung Barack Obamas hüllt sich vorerst in Schweigen, während der Al-Qaida-Experte Peter Bergen, Autor eines Buches über Bin Laden, von einem "Potpourri des Unsinns" spricht. Nur: Hersh ist der Beste seiner Sparte. Mit dem Massaker von My Lai deckte er eines der schlimmsten Kriegsverbrechen des Vietnamkrieges auf, später dokumentierte er, wie irakische Häftlinge in Abu Ghraib gequält wurden. "Das ist nun mal mein Job, ich habe schon immer gegen den Strich gebürstet", sagt der Altmeister am Montag bei CNN, wo ihm ein Moderator mit geballter Skepsis begegnet. Vor allem beruft er sich auf einen pensionierten pakistanischen Geheimdienstler, fügt aber hinzu, dass mehrere glaubwürdige Quellen bestätigt hätten, was ihm der Mann anvertraute.

Demnach begann es damit, dass im August 2010 ein ISI-Offizier a.D. in der amerikanischen Botschaft in Islamabad Jonathan Bank, den Chef der CIA-Residentur, zu sprechen wünschte. Er kenne das Versteck Bin Ladens und wolle die ausgeschriebene Belohnung, 25 Millionen Dollar, kassieren. Aus Langley flogen Agenten samt Lügendetektor ein, der Veteran bestand den Test, die anfangs skeptischen Amerikaner glaubten ihm seine Erzählung. Nach der soll Bin Laden von 2001 bis 2006 in den Bergen des Hindukusch gelebt haben, bevor ihn lokale Stammesführer gegen Geld an den ISI auslieferten. Da er an einer schweren Krankheit litt, sollen seine neuen Gastgeber einen Arzt im Range eines Majors beauftragt haben, ihn zu betreuen. "Die Wahrheit ist, Bin Laden war Invalide, aber das dürfen wir so nicht sagen", zitiert Hersh seinen Informanten. "Soll man denn sagen, ihr habt einen Krüppel erschossen?"

Dass Bin Laden in Abbottabad lebte, Standort einer Militärakademie, Hochburg der Armee, sei natürlich kein Zufall gewesen. Die Generäle sahen in ihm eine Art Geisel, in ihrer Rechnung sei er ein Faustpfand gewesen, um Al-Qaida und die Taliban an der kurzen Leine zu halten. Für den Fall, dass Letztere etwas tun, was mit den Interessen Pakistans kollidiert, drohten seine Quartiermeister damit, ihren prominenten Gefangenen an die USA auszuliefern. Das Kalkül änderte sich, als die Regierung Obama, nunmehr im Bilde über den Aufenthaltsort des Gesuchten, Druck ausübte, Militärhilfe kürzte, Waffenlieferungen verzögerte. In dieser Lage habe sich Armeechef Kayani auf einen Deal mit den Amerikanern eingelassen, wobei er auf einem Punkt beharrte: "Ihr müsst ihn töten, sonst gilt unsere Abmachung nicht".

Als der Kommandotrupp zu nächtlicher Stunde das Anwesen in Abbottabad stürmte, habe sich Bin Laden weder gewehrt noch eine seiner Ehefrauen als Schutzschild benutzt, schreibt Hersh. Stattdessen habe er sich in seinem Schlafzimmer versteckt, wo zwei Schützen mehrmals auf ihn feuerten. Auf dem Flug zurück ins afghanische Jalalabad, zum provisorischen Stützpunkt der Navy Seals, habe man Teile seiner Leiche, eher eines Torsos, aus dem Helikopter geworfen. Dass er zur See bestattet wurde, der Leichnam von Matrosen des Kriegsschiffes "Carl Vinson" im Arabischen Meer versenkt, ist nach Hershs Lesart noch so eine Alice-im-Wunderland-Story. (Schluss)

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort