Helmut Kohl geht auf Distanz zu Merkels Atomwende

Kurz vor den wichtigen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg kommt es für Union und FDP noch einmal ganz dicke. Kein Geringerer als Helmut Kohl (CDU) kritisiert die schwarz-gelbe Atomwende.

Berlin. Für Angela Merkel muss es wie ein Angriff aus dem Nichts sein: Helmut Kohls Artikel in der Bildzeitung vom Freitag. Der Altkanzler gibt in einem langen Text ein Bekenntnis zur Kernenergie als Brückentechnologie ab und warnt eindringlich vor einem "überhasteten" Ausstieg. "Deutschland ist nicht Japan. Japan ist nicht Deutschland". Und dann folgen Bemerkungen, die als direkte Kritik am Atom-Moratorium der Regierung und an Angela Merkel interpretiert werden können: "Wir sollten jetzt nicht so tun und vor allem auch nicht danach handeln, als sei uns das Risiko der Kernenergie erst durch Japan offenbar geworden und als bedeute Japan wirklich gänzlich neue Erkenntnisse."

Genau so aber hatte Angela Merkel ihre Atomwende begründet. Sie hatte von einer "neuen Lage" seit Fukushima gesprochen. Es habe sich gezeigt, sagte Merkel vorige Woche im Bundestag, "dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich waren, sondern Realität wurden."

Brisant an Kohls Artikel ist auch seine Bemerkung, man müsse jetzt "Ruhe, Nachdenklichkeit, Mut, Zuversicht und Führung" zeigen. Viele Atomkraftbefürworter in der Koalition sowie Wirtschaftsvertreter werfen der Regierung eine überhastete Reaktion vor; Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) hatte vor FDP-Abgeordneten sogar von "Hysterie" gesprochen.

Brüderle blieb auch gestern eine Art Pannenreaktor der Koalition. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung bestätigte ein Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes der Industrie (BDI), dass Brüderle vor diesem Kreis am 14. März tatsächlich gesagt hatte, das Atommoratorium sei nur den Landtagswahlen geschuldet.

Die Äußerung war am Donnerstag durch die Veröffentlichung des Sitzungsprotokolls bekannt geworden.

BDI-Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf, der anfangs noch von einem "Protokollfehler" gesprochen hatte, stellte gestern sein Amt zur Verfügung. Er übernahm damit die Verantwortung für die Indiskretion.

Die Rechtsgrundlage wackelt



Rechtliche Argumente gegen die Ernsthaftigkeit der schwarz-gelben Atomwende lieferte gestern der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. In einer vertraulichen Expertise, die unserer Zeitung vorliegt, heißt es, eine "Aussetzung" der Laufzeitverlängerung oder ein "Moratorium" durch die Regierung "wäre verfassungsrechtlich nicht möglich". Die Regierung sei an Recht und Gesetz gebunden und könne Gesetze nicht aussetzen. Merkel hatte die Worte Moratorium und Aussetzung mehrfach gebraucht, später aber nur noch von einer "Denkpause" gesprochen.

Auch die von der Regierung beschlossene dreimonatige Stilllegung von sieben Alt-Kernkraftwerken steht laut dem Gutachten auf wackeliger Rechtsgrundlage. Zwar sei der Schritt laut Atomgesetz prinzipiell zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben möglich; rechtlich strittig sei jedoch, ob tatsächliche neue Gefahren vorliegen müssten oder - wie hier - nur ein Gefahrenverdacht. In jedem Fall müsse eine Einzelfallprüfung erfolgen. Die hat es bisher allerdings nicht gegeben. Vielmehr hat die Regierung pauschal jene Kraftwerke abschalten lassen, die vor Ende 1980 in Betrieb gingen. Die Gutachter wiesen süffisant Merkels Begründung zurück, die Abschaltung der sieben Kraftwerke sei "Ausdruck äußerster Vorsorge". Im Dezember 2010 erst habe die Regierung die Laufzeiten auch der Altanlagen verlängert, also "offensichtlich keine mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestehende Gefahr" gesehen.

Die Opposition hatte von vornherein behauptet, die Atomwende sei nur ein Wahlkampfmanöver. Grünen-Expertin Sylvia Kotting-Uhl sagte unserer Zeitung: "Das Moratorium fußt auf windiger gesetzlicher Grundlage, damit es im Zweifel folgenlos bleiben kann."

EXTRA



Die Heldin von Minamisanriku: Die Tsunami-Opfer sind namenlos. In der Küstenstadt Minamisanriku aber sprechen alle seit der Katastrophe vom 11. März von einer jungen Frau, Miki Endo, die jetzt vom Fernsehsender NHK als "Heldin von Minamisanriku" porträtiert wurde. Die Angestellte der Stadt in der Präfektur Miyagi warnte die Bewohner über Lautsprecher vor der zehn Meter hohen Flutwelle, bis sie im ersten Stockwerk eines Gebäudes vermutlich selbst von den Wassermassen weggerissen wurde. Bis Freitag fehlte jede Spur von ihr - ebenso wie von rund 9500 anderen Bewohnern von Minamisanriku. Die Menschen dort sagen, die Stimme der jungen Frau sei so angespannt und eindringlich gewesen, dass viele Menschen ihr gefolgt und landeinwärts gelaufen seien. Vermutlich hätten sich so noch viele retten können, sagte eine Überlebende dem Sender NHK. "Sie rief noch, als die Welle schon da war", sagte ihre Mutter, die - wie der Vater - den Tsunami überlebte. Miki Endos Mutter sagte, noch am Vorabend des Katastrophentages habe sie mit ihrer Tochter telefoniert. "Ihre letzten Worte waren: Pass auf dich auf, Mama!" dpa

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