Heuchler und Taktierer

Man reibt sich die Augen und staunt: Haben wir richtig gehört, dass die großen Parteien beseelt sind von ihrer Verantwortung und den Reformstau in Deutschland auflösen wollen?

Man reibt sich die Augen und staunt: Haben wir richtig gehört, dass die großen Parteien beseelt sind von ihrer Verantwortung und den Reformstau in Deutschland auflösen wollen? Sind wir auf der falschen Veranstaltung, wenn sich der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering plötzlich und unerwartet als Klassenkämpfer der alten Schule aufführt und den Nimmersatts aus der Wirtschaft die Leviten liest? Nun, die Irritationen sind provoziert und unschöner Teil des politischen Theaters, das in Zeiten des Wahlkampfs besonders dramatisch inszeniert wird. Dabei scheuen die Hauptdarsteller nicht davor zurück, in klassischer Moliere-Manier den Tartuffe (Heuchler) zu mimen, und dem Volke bewusst das Gegenteil dessen vorzugaukeln, was sie eigentlich im Schilde führen. Offiziell verkünden die Reformer, sie seien ernsthaft bestrebt, die große Föderalismusreform, also die Neuverteilung der Macht, in einem zweiten Anlauf auf das Zielgleis zu heben. Tatsächlich haben die Strategen der Parteien längst ausgerechnet, dass sich ein Kompromiss für sie nicht unbedingt lohnt. Insbesondere Christian Wulff aus Niedersachsen hat die Aufgabe übernommen, das Konsensspiel der Föderalismus-Reformer Müntefering und Edmund Stoiber zu vereiteln. Wulff tut dies mit stillschweigender Billigung seiner Ministerpräsidenten-Kollegen und der Parteivorsitzenden Angela Merkel. Mit dieser Doppelstrategie – laut zusagen, leise absagen – soll die Einigungsabsicht zumindest vor dem 22. Mai (Wahlen in Nordrhein-Westfalen) hintertrieben werden. Bundeskanzler Gerhard Schröder soll keine Chance kriegen, der Nation den großen Durchbruch verkünden zu können. Ähnlich kommt der scheinbar neue Kurs des Chefgenossen Müntefering daher. Münteferings Revoluzzer-Stil wirkt schon deshalb problematisch, weil der SPD-Chef die Menschen vollends verwirrt mit seinen Lafontaine’schen Tönen, die vor wenigen Tagen noch auf dem Index standen. Wem sollen die Menschen denn nun glauben: Dem "standhaften Kanzler", der mit Hartz IV die Verarmung der Arbeitslosen beschleunigt hat und sich zugleich in Davos von den Bossen und Managern als mutiger Reformer feiern lässt? Oder dem Parteivorsitzenden, der rechtsherum Schröders Politik lobpreist und linksherum die Investoren als gierige "Heuschreckenschwärme" brandmarkt? Auch die Union taktiert, wo sie kann. Einigung bei dem lange umstrittenen Hochschul-Förderkonzept? Aber doch nicht mit Roland Koch, dem Gewieften. Konsens beim Jobgipfel über die Verringerung der Unternehmenssteuerlast? Woher denn, wenn man dem Finanzminister Eichel den schwarzen Peter zuschieben kann. Durchbruch beim gesetzlichen Mindestlohn? Aber warum etwas ändern, wenn die Regierung beim Versuch der Problemlösung zappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen? Die Moral von der Geschicht’: Es geht um die Macht im Staate, und dabei bleiben altmodische Sekundärtugenden wie Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit offenbar auf der Strecke. Was Schröder, Merkel und Co. bereits angerichtet haben, zeigen Studien wie aktuell von "Readers Digest": Gerade mal sechs Prozent der Deutschen wagen es noch, Vertrauen in die Politik zu bekunden. Die Frage nach dem "warum" erübrigt sich wohl. nachrichten.red@volksfreund.de

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