"Horror-Szenario"

TRIER. Frühgeborenen unter 500 Gramm soll die erforderliche Spezial-Behandlung künftig vorenthalten werden. Das sieht der Katalog der Fallpauschalen vor. "Unvorstellbar" für den Chef-Kinderarzt im Trierer Mutterhaus, Professor Wolfgang Rauh. Im TV -Interview kündigt er an, auch bei einer Umsetzung der Pläne alle Kinder genau so zu versorgen wie bisher.

Was halten Sie von der Debatte um die geplante Frühchen-Regelung? Rauh: Die Kritik ist berechtigt. Das Thema passt sehr gut in das Bild der völligen Vernachlässigung der Kinderheilkunde im Fallpauschalen-Katalog. Der Entwurf ist ein dilettantischer Versuch, ein ganz komplexes System in Zahlen zu fassen, der in keinster Weise den Erfordernissen gerecht wird. Alle Modellberechnungen führen zu einer Unterdeckung von etwa 30 Prozent bei der medizinischen Kinderversorgung. Damit wäre sie nicht mehr im notwendigen Maße zu leisten. Für die Frühgeborenen gilt das besonders. Ist das "Durchs-Raster-Fallen" kleiner Frühgeborener ein Versehen oder eine bewusste Entscheidung? Rauh: Ich halte es entweder für Unwissenheit oder für Gleichgültigkeit der politisch Verantwortlichen. Schätzungen zufolge überlebten bei einer Umsetzung der Vorlage in Deutschland jedes Jahr bis zu 1000 Kinder weniger, weitere 1000 wären zusätzlich behindert. Teilen Sie diese Annahmen? Rauh: Das wäre zu befürchten. Wenn Sie diese Zahlen auf Ihre Klinik herunterrechnen - was würde das für das Mutterhaus bedeuten? Rauh: Kinder unter 500 Gramm sind gottseidank extrem selten, da kann man noch keine Statistik bei uns aufstellen. Aber es ist auch bei den anderen Frühgeborenen problematisch. Um ungefähre Zahlen zu nennen: Wir haben pro Jahr etwa 20 Kinder unter 1000 Gramm und insgesamt 50 unter 1500 Gramm. Auch bei denen ist eine finanzielle Deckung nach derzeitigem Stand nicht gewährleistet. Ab welchem Geburtsgewicht besteht denn heute eine Überlebenschance? Rauh: Berichtet ist ein Überleben bei Kindern zwischen 300 und 400 Gramm. Unser kleinstes Kind, das - soweit bisher erkennbar - ohne nennenswerte Behinderung überlebt hat, wog 430 Gramm. Wie groß ist bei optimaler medizinischer Versorgung die Überlebenschance eines Kindes, das 499 Gramm wiegt und damit genau unter der Messlatte läge? Rauh: Das kommt darauf an, wo es geboren wird und welchen Reifegrad es hat. Der Gesamtstatistik nach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es überlebt, zwischen 30 und 50 Prozent. Und solche Kinder ließe man sterben, wenn es nach dem vorliegenden Entwurf ginge. Rauh: Nein, das kann ich einfach nicht glauben. Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin behandelt würden und dass für Defizite in diesem Bereich irgendwo in irgendeiner Form ein Ausgleich geschaffen werden müsste. Diese letzte Konsequenz der Nicht-Behandlung ist für mich unvertretbar. Heißt das, dass im Mutterhaus alle Kinder genau so weiterbehandelt würden wie bisher? Rauh: Das ist für mich das einzig menschlich Vorstellbare. Wie sieht die Versorgung Frühgeborener grob skizziert aus? Rauh: Sie kommen in einen Brutkasten und müssen in der Regel beatmet werden - zumindest in den ersten Tagen, weil die Lunge noch unreif ist. Sie bekommen sehr teure Medikamente, die wegen der Unreife der Lunge verabreicht werden müssen. All das ist in den Vorlagen überhaupt nicht berücksichtigt. Das ist auch mehrfach kritisiert worden. Die Äußerungen der Parlamentarischen Staatssekretärin, der Entwurf sei mit Praktikern erarbeitet worden, ist mir völlig unverständlich. Alle Fachgesellschaften sprechen sich ganz entschieden gegen die bisher vorliegenden Kataloge aus. Wie wahrscheinlich ist es, dass die vorgesehene Regelung zurück genommen wird? Rauh: Es ist für mich unvorstellbar, dass aus Kostengründen die Behandlung extrem kleiner Kinder einfach abgelehnt wird. Ich sehe dieses Horror-Szenario zwar von den nackten Zahlen her vor mir, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es dazu kommt. Ich gehe davon aus - oder hoffe -, dass noch Nachbesserungen erfolgen. Was unternehmen Sie derzeit? Rauh: Alle Fachgesellschaften haben ständig Eingaben an die Politik gemacht und bemühen sich, in den Ausschüssen Einfluss zu nehmen. Allerdings bis jetzt mit nicht erkennbarem Erfolg. Es liegt aus meiner Sicht schon eine gewisse Gleichgültigkeit vor. Kinder machen fünf Prozent der gesamten medizinischen Versorgung aus - da sprechen manche von einer zu vernachlässigenden Größe, um die man sich nicht mehr ernsthaft bemüht. Für mich ist es auch ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass man sich weder um die Schwächsten noch um die Zukunft ausreichend Sorgen macht. Kinder sind die Zukunft, und wenn sie derart stiefmütterlich behandelt werden, ist das für die Beteiligten schwer verständlich. S Mit Professor Wolfgang Rauh sprach TV-Redakteurin Inge Kreutz.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort