"Ich glaube nicht an Einzelfälle"

TRIER. "Abgezockt und Totgepflegt" heißt der Erfahrungsbericht von Markus Breitscheidel über sein Jahr als Pfleger in deutschen Seniorenheimen. Der TV sprach mit ihm über seine erschütternden Erlebnisse und die Konsequenzen, die er daraus zieht.

Sie beklagen in Ihrem Buch einen menschenverachtenden Umgang mit Senioren. Was sind die krassesten Fälle, die Sie erlebt haben?Breitscheidel: Da war zum Beispiel eine 82-jährige Frau, die nach einem Beckenbruch vom Krankenhaus statt in eine Reha direkt in eine Pflegestation verlegt wurde. Dort hat man sich sechs, sieben Wochen lang nicht um sie gekümmert. Als ich die Frau vorfand, wog sie nur noch 35 Kilo. Ihre Füße waren bereits verkrümmt, das bedeutet: Sie wird nie wieder laufen können. Oder da war eine 61-jährige Beamtin, die gerade ein Jahr pensioniert war. Sie lag da mit verfilzten Haaren und einem Dekubitus von 15 Zentimetern, der sie einige Wochen später das Leben gekostet hat. 2005 hat der Sozialverband Deutschland eine Erhebung herausgebracht, der zufolge in unserem Land 10 000 Menschen aufgrund von Vernachlässigung pro Jahr in Altenheimen sterben. Wie kommt es zu derartigen Verfehlungen?Breitscheidel: Der Alltag des Pflegepersonals ist sehr hart. Man kämpft darum, den Menschen während eines Dienstes wenigstens 200 Milliliter zu trinken zu geben. Meistens schafft man das nicht bei allen. Das Gleiche gilt für das Essen. Man kommt überhaupt nicht zu einem persönlichen Gespräch mit den alten Menschen. Sie sind sozial vernachlässigt. Sie prangern nicht nur die Situation der Senioren und Pflegekräfte an, sondern auch Betrug an den Sozialversicherungen. Was genau haben Sie beobachtet?Breitscheidel: Ich habe zum Beispiel für eine Station nachgerechnet, wie viel Zeit aufgrund der Pflegestufen in die Pflege investiert werden muss. Abgerechnet wurden pro Schicht 50 Stunden - während ich alleine auf dieser Station war, also gerade einmal 7,5 Stunden geleistet wurden. Sind das, was Sie in Ihrem Buch beschreiben, Einzelfälle?Breitscheidel: Ich habe seit Erscheinen des Buches mehr als 1000 Briefe bekommen von Pflegekräften, die E-Mails habe ich gar nicht gezählt. Leider haben diese Menschen die gleichen Erfahrungen gemacht wie ich. Ich glaube mittlerweile nicht mehr daran, dass es Einzelfälle sind. Um es klar zu sagen: Es gibt auch gute Heime in Deutschland. Aber es gibt viel zu viele schlechte. Was wissen Sie über die Situation in der Region Trier?Breitscheidel: Ich habe auch aus dieser Region Briefe erhalten von Pflegekräften, in deren Heimen es nicht stimmt. Was muss sich ändern?Breitscheidel: Zwei Schritte sind notwendig. Der erste ist, die Rahmenbedingungen für die "Pflege nach Zeit" zu verändern, die aus der Wirtschaft stammt. Das jetzige System führt massenweise zum Burn-Out-Syndrom. Der zweite Punkt ist die Abschaffung der Gewinn-Orientierung. Es gibt große Pflege-Konzerne, Aktiengesellschaften, die den Anlegern in Hochglanzprospekten eine Rendite von zehn bis 15 Prozent versprechen. Andererseits verkünden sie, es stünde nicht genug Geld für Pflege zur Verfügung. Viele Heimleiter haben mir bestätigt, dass die Summen, die wir im Moment in die Pflege investieren - im Schnitt 3000 Euro pro Platz und Monat - für eine humane Pflege ausreicht. Wir müssen wieder dorthin zurückkommen, wo wir bis zur Einführung der Pflegeversicherung 1995 waren: Die Heime sollen kostendeckend arbeiten. Wie haben die Träger von Heimen auf Ihr Buch reagiert?Breitscheidel: Das ist der eigentliche Skandal: Es gibt keinerlei gerichtliche Schritte! Nicht eines der Heime hat versucht, gerichtlich gegen das Buch vorzugehen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Mordserien, wie es sie in Bonn, Sonthofen und wohl auch in Köln gab, und dem Pflegealltag?Breitscheidel: Die Akkordarbeit in der Pflege führt in der Tat zu Gewalttaten. Es gibt in Bonn einen Verein "Handeln statt Misshandeln". Er nimmt telefonisch Gewalttaten auf und erhält 400 000 Meldungen pro Jahr aus Altenheimen. Da sehe ich schon einen Zusammenhang. Allerdings muss man bei solchen Einzelfällen - und die Mordserien sind Einzelfälle - sagen, dass es sich bei den Tätern um psychisch labile Personen handelte. Das alles den Rahmenbedingungen zuzuschieben, wäre meines Erachtens nach falsch. Was raten Sie Menschen, die keine andere Möglichkeit sehen, als ihre Angehörigen in ein Heim zu geben: Wie findet man ein sicheres Haus? Breitscheidel: Ich rate, sich vier Wochen Urlaub zu nehmen, einen Vertrag auf Probe abzuschließen und dann jeden Tag da zu sein, zu verschiedenen Zeiten. Um darauf zu achten: Ist Hektik auf der Station? Ist genügend Pflegepersonal da? Wichtig ist auch: Arbeitet das Heim mit gemeinnützigen Organisationen, mit Vereinen zusammen, geht es in die Öffentlichkeit? Das tun Heime, die etwas zu verbergen haben, nicht. Und man sollte sich auf keinen Fall von einem luxuriösen Umfeld blenden lassen. S Mit Markus Breitscheidel sprach TV-Redakteurin Inge Kreutz.

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