"Ich krieg' die Krise"

Trier · "Ich krieg\' die Krise." Was so lax in jedermanns Sprachgebrauch eingegangen ist, wird zum Motto einer der wichtigsten Kongresse in der Geschichte der Trierer Universität. Rund 2000 Wissenschaftler werden sich dieser Woche ein Stelldichein beim 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geben. Dabei kann diese Wissenschaft Antworten auf aktuelle, politische und gesellschaftliche Probleme geben.

Trier. Ob Gewalt oder Krieg, demografischer Wandel, Bildung, Ehe oder Stadtentwicklung: Krisen sind für die Menschen allgegenwärtig. Die Soziologie ist die Wissenschaft, die sich mit dem sozialen Verhalten des Menschen, also auch mit ihren Krisen, beschäftigt, warum und wie Gesellschaften ticken und welche Folgen das für das Zusammenleben hat. Ein spannendes Forschungsobjekt, das nun in der kommenden Woche zum größten deutschen Kongress seines Faches nach Trier lädt. Und wie sieht die aktuelle Forschung der Soziologie die Krisen in der Welt? Ein Erklärungsversuch.

Vom wertfreien Begriff zur universellen Negativvokabel
Die Soziologie kennt den Begriff der Krise als wissenschaftliche Vokabel gar nicht. "Schaut man auf seine ursprüngliche Bedeutung, besteht in jeder Krise erstmal nur eine Chance, eine Situation zu ändern, mit dem Wissen aus der Vergangenheit heraus", sagt Martin Endreß, Soziologieprofessor an der Trierer Uni. Aus der Krise heraus werde erstmal alles anders, aber nicht per se schlecht. Inzwischen sei der Begriff jedoch negativ und allumfassend. Und nicht nur das: "Es gibt inzwischen eine Kultur des Alarmismus: Wir neigen zu Niedergangsszenarien", sagt der Wissenschaftler. Und derjenige, der von Krisen spreche, werde oft als besonders wachsamer Zeitgenosse wahrgenommen. Ein Trugschluss, wie die Soziologie sagt.

Von öffentlichen Gütern und nationalistischen Konflikten
Wer meint, die Konflikte und Krisen der Welt aus der Soziologie heraus eindeutig erfassen zu können, wird enttäuscht. Sowohl Großmachtstreben als auch Kleinstaaterei stehen eng nebeneinander. Und manchmal trägt das eine das Deckmäntelchen des anderen. Beispiel Ukraine: "Hier gibt es viele Phänomene - zu erklären aus der Vergangenheit. Vladimir Putin möchte die Zerbröckelung des russischen Imperiums zurückschrauben. Sein Lebenslauf nach dem Zweiten Weltkrieg und unter Gorbatschow steht stellvertretend dafür", sagt Martin Endreß, der sich in der Forschung speziell mit politischen Krisen beschäftigt. Im ehemaligen Jugoslawien sehe man dagegen eine Renationalisierung, verbunden mit einem Wiedererstarken religiöser Motive. Das Beispiel Schottland zeigt beide Tendenzen: Einerseits wollen viele Schotten eine eigenständige Nation, allerdings unter dem Mantel einer EU-Mitgliedschaft. "Das muss alles kein Widerspruch sein", sagt Sozialwissenschaftler Endreß. Gesellschaftliches Miteinander sei immer eine Gratwanderung, und so seien Staatsgrenzen erstmal nur vorläufige Ergebnisse politischer, manchmal gewalttätiger Prozesse. "Wer hätte nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht, dass es mal ein Schengener Abkommen geben würde."

Von der Unvernunft des Menschen
Von Wertungen macht sich die Soziologie zunächst frei. Ob es unvernünftig ist, sich trotz der Erkenntnisse aus zwei Weltkriegen noch wie Kain und Abel den Schädel einzuschlagen, sehen Wissenschaftler wie Martin Endreß neutral. Völkermord und Terror wird es auch künftig geben, ist er sich sicher. "Die verschärfte Gewalt wie im Irak ist eine Herausforderung für westliche Normen", sagt er. Ob diese als besser im Vergleich zu denen der Bewegung Islamischer Staat zu bewerten sind, gebe die Wissenschaft nicht her. Weltgeschichtlich bedeute die aktuelle Krise einen Wimpernschlag. "Religionskriege hat es ja auch in Europa gegeben. Und auch dies war weit entfernt von menschenrechtlichen Vorstellungen", sagt Endreß. Viele Konflikte gärten ja schon länger, so dass man sie - aus historischer Perspektive - als Möglichkeit einbeziehen musste, auch wenn ihr Eintreten nicht absehbar gewesen sei.


Von Aktionismus und Gleichgültigkeit in politischen Krisen
Hinterher ist man immer schlauer: Ein bisschen banal, aber durchaus zutreffend. Und für den Trierer Soziologen Endreß eine Voraussetzung für seine eigene Wissenschaft. "Wir beschäftigen uns mit den Nebenfolgen gesellschaftlichen und sozialen Handelns", sagt er. Das Wichtige daran: Der Mensch lerne - aus heutiger Sicht rückblickend für die Zukunft. Dies sei komplex und vielschichtig. Ob Euro-Krise, IS-Krise oder Gesellschaftskrise: Gerade weil nichts absehbar sei, entstünden solche neuen Umbrüche.
Extra

Der 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie steht ganz im Zeichen von Krisen. Rund 2000 Wissenschaftler werden dazu in Trier erwartet. Etliche hundert Referenten, teils Koryphäen aus Harvard, Standford und dem Gastland Polen sowie Gastreferentin Gesine Schwan, gehen in rund 700 unterschiedlichen Vorträgen dem Phänomen der Krise auf den Grund. Auch für die Öffentlichkeit ist ein Teil der Vorträge geöffnet. Tickets dazu gibt es an der Tageskasse. Ein Teil der Veranstaltungen wie etwa das Krisenfest und eine Radstadttour finden in der Innenstadt von Trier statt. Infos: <%LINK auto="true" href="http://kongress2014.soziologie.de" class="more" text="kongress2014.soziologie.de"%> und per E-Mail: endress@uni-trier.de sas

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