"Ich warne vor schnellem Urteil"

BERLIN. Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn hat in der vergangenen Woche Moskau besucht und ein harsches Urteil über die Entwicklung der Demokratie in Russland mitgebracht. Zugleich kritisiert der Heidelberger Bundestagsabgeordnete im Gespräch mit unserer Zeitung die Raketenpläne der USA und fordert die Europäer auf, sich dagegen zu wehren.

Besteht nach der Rede Putins in München die Gefahr eines neuen Kalten Krieges?Kuhn: Das ist übertrieben. Der Westen darf allerdings keine Anlässe schaffen für eine solche Entwicklung. Die amerikanischen Pläne für ein Raketenabwehrsystem mit Komponenten in Polen und Tschechien kommen völlig unvermittelt. Sie sind auch mit der Nato nicht abgesprochen. Wenn diese Raketen Europa tatsächlich vor iranischen Angriffen schützen sollten, dann müssten sie im Mittelmeerraum stehen. So wie die Vereinigten Staaten von Amerika das machen, kann das Russland nur als Provokation verstehen. Diese Politik birgt die große Gefahr, dass der atomare Abrüstungsprozess wieder in Frage gestellt wird. Ist die amtierende EU-Präsidentin Angela Merkel in dieser Angelegenheit gefordert? Kuhn: Wenn in dieser Woche die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice nach Berlin kommt, muss ihr die Bundesregierung ganz klar vermitteln, dass die Raketenpläne in Europa auf Kritik stoßen, dass Russland das als gegen sich gerichtet betrachten muss, und dass es keine Unglaubwürdigkeiten im Abrüstungsprozess geben darf. Benutzt Russland Öl und Gas als politische Waffen? Kuhn: Die Europäer sollten sich in dieser Frage nicht zu sehr fürchten. Wir sind zwar abhängig von den Energielieferungen, Russland aber genauso von einer zuverlässigen Abnahme und Bezahlung. Auf dieser Basis muss Europa die Verhandlungen führen, selbstbewusst und nicht in Schockstarre. Moskau versucht immer wieder, Vereinbarungen mit einzelnen Ländern zu treffen. Dagegen muss man eine gemeinsame europäische Energiepolitik setzen. Gegen unsere Angst vor einem Übermaß an Abhängigkeit gibt es übrigens ein gutes Mittel: systematisch Energie einsparen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Demokratie in Russland? Kuhn: Viele sprechen von gelenkter Demokratie. Doch selbst das ist sehr beschönigend. Also schon gar keine lupenreine Demokratie, wie Altkanzler Schröder sagte? Kuhn: Null. Die Gruppe um Putin, die aus dem Geheimdienst kommt, hat das Land fest im Griff. Und für die Neuwahlen ist Putins Hauptziel, seiner Gruppe diese Macht zu erhalten. Oppositionsparteien haben Schwierigkeiten, überhaupt zugelassen zu werden. Wenn sie es dann sind, müssen sie eine Sieben-Prozent-Hürde überwinden. Die staatliche Kontrolle des Fernsehens sorgt dafür, dass sie das nicht schaffen. Nein, das sind nicht freie und faire Wahlen, dass ist eine von der Staatspartei gelenkte Wahl. Das müssen wir klar ansprechen, ebenso die Journalistenmorde oder die Tschetschenien-Politik. Es darf in Bezug auf Russland keinen Menschenrechts-Rabatt für Öl geben. Glauben Sie, dass Außenminister Steinmeier die Kurnaz-Affäre politisch überlebt?Kuhn: Ich nehme Untersuchungsausschüsse ernst. Man kann die Ergebnisse einer Untersuchung erst bewerten, wenn sie abgeschlossen ist. Steinmeier ist ein guter Außenminister. Er war bisher zum Fall Kurnaz noch gar nicht im Ausschuss. Seine Aussage muss man erst einmal abwarten. Das Parlament sollte mit seiner schärfsten Waffe etwas souveräner umgehen, als das hier teilweise geschehen ist. Steinmeier sagt, zur Bewertung seiner Entscheidungen gehöre auch die damalige Situation nach dem 11. September 2001.Kuhn: Das ist auch meine Überzeugung. Wer aufklärt, muss auch den zeitlichen Kontext berücksichtigen. Auf dieser Basis muss man bewerten, nicht allein aus heutiger Sicht. Ich warne vor schnellen Verurteilungen, nur weil die Kameras locken. Mit Fritz Kuhn sprach unser Korrespondent Werner Kolhoff.

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