Erinnerungskultur Denkmalsturm in Belgien
Brüssel · Im Zuge der Black-lives-matter-Bewegung wird die Erinnerungskultur für Kolonialherrscher Leopold infrage gestellt.
Nachts rücken die Denkmal- und Bilderstürmer an. Sie sprühen „Moordenaar“ – zu Deutsch Mörder – auf die Denkmäler. Sie pinseln die Hände von Leopold II. mit leuchtend roter Farbe an, die das Blut der getöteten Kongolesen symbolisiert. Sie verdecken das Gesicht des belgischen Monarchen mit Tüchern, der seinen Privatbesitz Kongo zwischen 1885 und 1908 gnadenlos ausgepresst hat und dabei den Tod von bis zu fünf Millionen Menschen in Kauf genommen hat.
Die Belgier stoßen den Vorfahren des jetzigen Königs Philipp buchstäblich vom Sockel. In Antwerpen, Mons und Leuven haben die Stadtverwaltungen die Statuen bereits in die Asservatenkammer in Sicherheit gebracht. In Brüssel, wo es allein 70 Statuen, Denkmäler und Bilder von Leopold II: im öffentlichen Raum gibt, ruft der Staatssekretär Pascal Smet dazu auf, zusammen mit der belgo-kongolesischen Gemeinde das erste Denkmal für die Dekolonialisierung anzugehen.
Später als andere ehemalige Kolonialmächte stellt sich Belgien der Debatte um die koloniale Vergangenheit. Dies hängt auch damit zusammen, dass Belgien anders als die Niederlande, Frankreich und England die junge Generation aus den ehemaligen Kolonien erst sehr spät und nicht besonders zahlreich ins Land gelassen hat. So sind die Schwarzafrikaner aus dem Kongo heute in Belgien in der Unterzahl gegenüber Marokkanern und Algeriern, die als Gastarbeiter in den 1970er Jahren kamen. Seit Jahren fordern zwar Aktivisten eine Entkolonialisierung der belgischen Denkmalkultur. Während das Reiterstandbild von Leopold II. in Kinshasa bereits vor Jahrzehnten wegen der Proteste der Kongolesen abgebaut und ins Museum geschafft wurde, störten sich aber in Belgien bislang nur wenige an der Erinnerungskultur. Erst die internationale „Black-lives-matter“-Bewegung, die nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Polizeigewalt in den USA ihren Anfang nahm, hat daran in Belgien etwas geändert. Dabei gibt es auch in Belgien immer wieder Vorfälle, die eine strukturelle Benachteiligung von Menschen mit schwarzafrikanischen und arabischen Wurzeln bei der Wohnungs- und Arbeitssuche sowie durch die Ordnungskräfte nahelegen.
Während der Denkmalsturm weitgehend ungeordnet weiterläuft, wird die Lage für die offizielle belgische Politik immer heikler. Ende des Monats jährt sich die Unabhängigkeit des Kongo zum 60. Mal. König Philipp – offizielles Regierungsoberhaupt – hat bislang nicht ein einziges Mal Stellung genommen zur Kolonialgeschichte. Als das Afrika-Museum in Tervuren vor anderthalb Jahren mit einer komplett überarbeiteten Schau wiedereröffnet wurde, ist er den Eröffnungsfeierlichkeiten ferngeblieben. Eine Entschuldigung des belgischen Staates steht bis heute aus. Dabei hatten zwei Könige, die Leopold auf den belgischen Thron folgten, Anfang des 20. Jahrhunderts bereits deutliche Kritik an den Grausamkeiten im Kolonialregime unter ihrem Onkel beziehungsweise Großonkel geübt.
Die Historiker sind sich einig, dass Leopold II. den Kongo wirtschaftlich ausgebeutet hat und dabei unvorstellbare Grausamkeiten und den gewaltsamen Tod von zwischen einer und fünf Millionen Kongolesen in Kauf genommen hat. Es gab willkürliche Tötungen, Vergewaltigungen sowie das Abschlagen von Händen zur Bestrafung. Leopold II. hat Konzessionen an private Unternehmen vergeben, die die lokale Bevölkerung für die Gewinnung von Kautschuk gewaltsam unterdrückt haben. Mit den Profiten, die der Monarch aus seinem Privatbesitz gezogen hat, hat er in Belgien Bahnlinien und Prachtbauten errichtet, die bis heute zu sehen sind. Lange wurde er daher in Belgien vor allem als der „König – der Baumeister“ wahrgenommen. Nun kommt stärker die Seite des „Königs, der die Hände abschneidet“ hervor.