In den Straßen von Sandtown kehrt trügerische Ruhe ein - auch wegen der noch immer geltenden Ausgangssperre

Baltimore · Nach schweren Unruhen in der US-Stadt Baltimore zeigt eine nächtliche Ausgangssperre Wirkung. Polizei und Nationalgarde setzen Tränengas und Pfefferspray ein. Vereinzelt kommt es zu Zusammenstößen. Ein Filialleiter eines Matratzengeschäftes versucht den Frieden zu wahren.

Aaron Collins hat frei genommen. Sleepy's, eine Matratzenmarke, muss für einen Tag ohne ihren Filialleiter in West-Baltimore auskommen. Collins hat Wichtigeres zu tun, er versucht den Frieden zu wahren. Hochkonzentriert steht er vor einer Reihe blau uniformierter Polizisten, den wachen Blick auf eine demonstrierende Menschenmenge gerichtet, als wäre er selber ein Ordnungshüter.

Nur dass die Menge nicht wirklich demonstriert, sondern eher ein Volksfest feiert. Einige tanzen, während sechs nicht mehr ganz junge Trompeter, Saxofonisten und Trommler, die Baltimore Brass Factory, Jazzklänge spielen. Vor einer Baptistenkirche namens Simmons Memorial singt ein ungemein lautstarker, großartig rhythmischer Gospelchor vom Herrgott, der hoch im Himmel schwebt. Es ist, als wollte Baltimore sie durch gute Laune und hohe Dezibelstärken vertreiben, die bösen Geister der Nacht. In Baltimore hat die Talkshow-Queen Oprah Winfrey Karriere gemacht, die Stadt nennt sich Charm City, seit den Siebzigerjahren, als sie den Niedergang mit einem aufmunternden Werbespot bremsen wollte. Und nun, scheint es, will der ausgelassene Pulk am Brennpunkt des Geschehens - Pennsylvania, Ecke North Avenue - aller Welt zeigen, was für ein Quell der Lebensfreude Baltimore ist.

Aber die Stimmung, weiß Collins, kann jederzeit kippen. Dann schreiten sie ein, er und die drei Dutzend Männer, die sich vor den Uniformierten aufgebaut haben wie eine menschliche Mauer. Sportlertypen, groß und kräftig, alle schwarz. Neben Collins sein Kumpel Nick Tucker, ein bärtiger Student, der an der Bowie State University Football spielt und sich ein T-Shirt seiner Mannschaft übergestreift hat, darauf das Maskottchen einer fröhlichen Bulldogge. "Vorhin hat jemand eine Flasche geworfen. Hab‘ sie aufgefangen", sagt Tucker in lakonischer Kürze, und als er den skeptischen Blick des Reporters bemerkt, versichert Collins, dass es wirklich so war. Ein Beamter habe wie im Reflex mit Pfefferspray auf den Flaschenwurf reagiert, für ein paar Sekunden habe eine enorme Spannung in der Luft gelegen.

Nein, meint der 31-Jährige, leicht falle es ihm nicht, eine schützende Wand vor den Cops zu bilden. Dazu hätten sie ihn zu oft schikaniert, ihn wegen irgendwelcher Lappalien angehalten, etwa, als er Teenager war und seine Hose für den Geschmack eines Weißen ein bisschen tief saß. "Aber glaubst du, es bessert sich was, wenn wir unser Viertel abfackeln? Da drüben, das CVS, das baut keiner mehr auf, das wird ein Mom-and-Pop-Shop, sonst nichts." CVS, Amerikas größte Drogeriekette, ist in Sandtown-Winchester, dem Problemviertel im Westen der Stadt, vorläufig nicht mehr vertreten. Wo einmal Schaufenster waren, gibt es nur noch versengte Metallrahmen. Drinnen kehren freiwillige Helfer die traurigen Reste in eine Ecke. Es stinkt, als wären Schränke voller Medikamente umgekippt und explodiert, und so war es im Grunde ja auch. Zentimeterhoch steht eine giftige Brühe im Raum, während Schaulustige Erinnerungsfotos schießen. Ruinentourismus. Falls Collins recht hat, dann wird hier keine der großen Ketten mehr ein Risiko eingehen, dann macht hier irgendwann höchstens ein Tante-Emma-Laden auf. Mom and Pop, wie Amerikaner sagen. Es wäre noch ein Symbol für den scheinbar unaufhaltsamen Abstieg von Sandtown-Winchester.

Pure Tristesse verströmt es nicht, das Viertel, aus dem Freddie Gray stammte, der 25-Jährige, der in einer Klinik starb, nachdem ihn Polizisten festgenommen hatten. Sanfte Hügel, lange Straßenzüge mit zwei- und dreistöckigen Reihenhäusern, oft geschmackvoll angemalt in zarten Pastelltönen. Eigentlich Postkartenbilder. Nur dass sich in den Seitenstraßen die Zahl der Ruinen häuft, leere Fensterhöhlen mit Sperrholz verrammelt. Gray wuchs mit zwei Schwestern in einem Haus auf, an dessen Fensterrahmen bleihaltige Farbe abblätterte. Im Blut der drei Kinder war eine hohe Bleikonzentration festgestellt worden, worauf die Mutter den Vermieter verklagte.

In Sandtown-Winchester liegt die Zahl solcher Verfahren viermal höher als im Durchschnitt Baltimores. Statistisch gesehen ist es zweimal wahrscheinlicher, hier durch Kugeln getötet zu werden als im Rest der Stadt, obwohl die auch schon eine hohe Kriminalitätsrate aufweist. Unter den 10- bis 17-Jährigen saß jeder Vierte schon einmal hinter Gittern. Die Heroinsucht grassiert, jeder fünfte Erwerbsfähige ist arbeitslos.

Dass es zuletzt noch weiter abwärts ging, macht Temple Stokes, Soziologiestudentin im letzten Semester, an den Pal-Zentren fest. Pal steht für Police Athletic League, gemeint sind Turnhallen, in denen sich Heranwachsende austoben können, theoretisch unter Anleitung von Polizisten. Die vier Pal-Anlagen, die es im Westen Baltimores gab, wurden allesamt vor drei Jahren geschlossen. Mangelnde Gebäudesicherheit, lautete die Begründung. "Dafür klotzen sie mitten in die Stadt ein nagelneues Jugendgefängnis, für hundert Millionen, dafür reicht das Geld, das ist doch alles ein Teufelskreis", poltert Stokes. Warum der Kessel explodierte, "explodierten musste", illustriert sie mit einer Metapher aus der Tierwelt. "Das ist wie mit einer Katze, die du immer nur in die Ecke drängst, ohne ihr Futter zu geben. Irgendwann springt sie dich an." Tanisha Owens, eine Lehrerin, erzählt von Sparrunden im Schulbetrieb: In ihrer ersten Klasse sitzen jetzt 32 Kinder. "Die Kids sind smart, doch unser Bildungssystem lässt sie im Stich, sagt Carla Hayden, die Chefin einer Bibliothek, die so etwas wie der Lichtblick von Sandtown-Winchester ist, allein schon optisch.

Die bunten Glasfronten der Enoch Pratt Library sind heil, ein auffälliger Kontrast zur komplett zerstörten Drogerie direkt gegenüber. "Vielleicht lag es an Penny. Penny, die Schutzpatronin", versucht die Direktorin das kleine Wunder zu erklären und zeigt auf das Fassadenbild eines schwarzen Mädchens, das im Schneidersitz ein Buch liest. Sie macht sich Mut. Eines, erzählt Carla Hayden, hätten sie jedenfalls schon am Morgen nach der Flammennacht beschlossen: "Wir gehen alle zurück an die Arbeit".

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort