Interview mit Parteienforscher Uwe Jun zum Jamaika-Ende: „Demokratie braucht den Kompromiss“

Trier · Der Trierer Parteienforscher sagt, warum Jamaika gescheitert ist und Neuwahlen im Frühjahr wahrscheinlich sind.

Jamaika ist gescheitert - und jetzt? Das hat Volksfreund Redakteur Rolf Seydewitz am Montag den Trierer Parteienforscher Uwe Jun gefragt. Der Universitätsprofessor hält Neuwahlen für wahrscheinlich. Und danach, so Jun, könne auch die SPD von ihrem kategorischen Nein zu einer Fortsetzung der großen Koalition noch einmal Abstand nehmen.

Was haben Sie gedacht, als Sie vom Scheitern der Sondierung erfahren haben?
JUN Ich war überrascht, weil ich immer davon ausgegangen bin, dass Einigungsbereitschaft, Pragmatismus und auch Professionalität unter den Akteuren soweit vorhanden sind, dass man sich verständigen kann. Aber offensichtlich hat es an Vertrauen und am unbedingten Willen zur Zusammenarbeit gefehlt.

Ist es nicht ein Armutszeugnis, vier Wochen zu verhandeln und nichts auf die Kette zu bekommen?
JUN Es war schon in den letzten beiden Wochen zu sehen, dass die Fronten sich verhärtet haben. Vielleicht war es auch aufgrund der Vergangenheit nicht möglich: Da sind Grüne und FDP als besonders rivalisierende Wettbewerber; und es gab unklare Verhältnisse bei der CSU, was die innerparteiliche Situation betrifft. Das alles hat mit eine Rolle gespielt und wurde offensichtlich zu einer zu komplexen Lage für die Akteure.

Was war Ihrer Einschätzung nach ausschlaggebend fürs Scheitern?
JUN Der ausschlaggebende Faktor war, dass man keine gemeinsame Linie finden konnte, dass das Gemeinsame nicht im Vordergrund stand und kein Vertrauen aufgebaut wurde. Das konnte man auch daran erkennen, dass man sich immer wieder öffentlich und wechselseitig die Schuld in die Schuhe geschoben hat, dass die Verhandlungen stockten. So etwas ist untypisch für Koalitionsverhandlungen und hat letztlich destabilisierend gewirkt.

Inwiefern ist für Sie die Argumentation des FDP-Chefs nachvollziehbar?
JUN Es ist eine Art Hasardspiel von Christian Lindner. Er scheint sich etwas davon zu versprechen, dass er als jemand dasteht, der seine Prinzipien auch nicht für eine Regierungsbeteiligung verkauft. Ob das am Ende aber vom Wähler belohnt wird, zeigt sich erst bei möglichen Neuwahlen.

Was ist von Lindners Satz zu halten, es "ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren"?
JUN Es ist Lindners Auffassung: Besser nicht in eine Regierung einsteigen, als sich an einer Regierung zu beteiligen, die in eine nach Ansicht der Liberalen falsche Richtung steuert. Die FDP hofft, dass sie aus dieser Prinzipienfestigkeit Kapital schlagen kann, dass der Wähler dies honoriert.

Zurecht?
JUN Das lässt sich noch schwer sagen. Bis zu einer möglichen Neuwahl kann noch viel passieren. Das lässt sich jetzt nicht seriös prognostizieren.

Wie wird es jetzt weitergehen?
JUN Wenn die SPD bei ihrer Haltung bleibt, gibt es verfassungsrechtlich nur zwei Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist die Minderheitsregierung, wobei ich dann nicht sehe, wer wen tolerieren soll. Das ist ein Unterfangen, das nicht auf Stabilität angelegt ist. Das aber wird von Deutschland in Europa erwartet. Dann blieben als weitere Möglichkeit nur noch Neuwahlen.

Ist die SPD nicht in der Pflicht, die große Koalition fortzusetzen?
JUN SPD-Chef Martin Schulz hat mehrfach erklärt, man stünde auf keinen Fall für eine Fortsetzung der großen Koalition zur Verfügung. Würde die SPD dies jetzt doch wollen, litte ihre Glaubwürdigkeit erheblich darunter. Das versucht sie nach meinem Eindruck im Moment zu vermeiden.

Warum kommt das Scheitern der Sondierung für die SPD ungelegen?
JUN Die SPD ist in einem Klärungs- und Findungsprozess. Die Partei will sich inhaltlich, organisatorisch und strategisch neu aufstellen, da ist sie gerade mal am Anfang. Käme es zu Neuwahlen, müsste sie Wahlkampf betreiben und deswegen einige Entscheidungen vorziehen. Keine leichte Aufgabe in der Kürze der Zeit.

Welche Partei wird von der gescheiterten Sondierung profitieren?
JUN Schwer zu sagen. Man könnte sagen, dass AfD und Linke am wenigsten vom Scheitern der Sondierungsgespräche berührt werden. Natürlich werden nun einige sagen: Die AfD wird der Gewinner sein, weil sie argumentieren kann, dass die etablierten Parteien noch nicht mal eine Regierungsbildung hinbekommen. Aber letztlich entscheidet der Wähler, was ihm bei Neuwahlen wichtiger ist: Regierungsfähigkeit oder die Protesthaltung gegen das politische Establishment.

Welche Lehren sollte man aus dem gescheiterten Viererbündnis ziehen?
JUN Eine Demokratie braucht den Kompromiss. Der Kompromiss ist gerade in einer Koalitionsdemokratie wie Deutschland ganz entscheidend. Die Parteien sollten daran denken, dass Regierungsbildung eine Funktion ist, die sie haben, ein Auftrag. Man kann dem Wähler einmal zumuten, das nicht hinzubekommen, aber nicht auf Dauer.

Warum funktioniert das in Rheinland-Pfalz, aber nicht im Bund?
JUN Eine Koalition ist auf Länderebene immer einfacher, weil viel weniger Grundsatzentscheidungen getroffen werden müssen. Bei grundlegenden Prinzipienentscheidungen ist ein Kompromiss immer schwieriger zu erreichen. Das haben wir ja jetzt bei der gescheiterten Sondierung erlebt: Bei den Fragen Klima- oder Migrationspolitik ging es an die Grundfesten, die Grundwerte. Die stehen auf Länderebene nicht zur Disposition.

Droht in Deutschland jetzt eine Zeit des politischen Stillstands?
JUN Wir haben ja eine geschäftsführende Bundesregierung. Solange Frau Merkel nicht zurücktritt, bleibt auch die Regierung im Amt. Natürlich gibt es derzeit keine grundlegenden Entscheidungen. Aber einen Stillstand hätten wir eher bei einer Minderheitsregierung.

Was passiert mit den drei politischen Aushängeschildern Merkel, Schulz, Seehofer?
JUN Die Parteien müssen jetzt entscheiden, ob sie mit diesem Spitzenpersonal in die mögliche Neuwahl gehen. Ich halte das derzeit bei allen drei Parteien für offen. Wenn es aber im Frühjahr zu Neuwahlen kommt, wäre eine Palastrevolution unter Umständen kontraproduktiv. Aber natürlich können die Parteivorsitzenden auch selbst über ihre Zukunft entscheiden.

Was ist, wenn nach einer Neuwahl die Mehrheitsverhältnisse so sind wie jetzt?
JUN Die Frage ist, ob die SPD dann womöglich mit einer anderen Haltung in Sondierungsgespräche geht. Nach Neuwahlen könnte sich die SPD durchaus ohne Glaubwürdigkeitsverlust wieder als Alternative anbieten.

UNI-PROFESSOR UND PARTEIENFORSCHER: Uwe Jun, 1963 in Braunschweig geboren, lehrt seit 2005 als Professor für westliche Regierungssysteme und das politische System Deutschlands an der Universität Trier. Seine Schwerpunkte sind Parteienforschung und politische Kommunikation.

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