"Irgendetwas läuft hier schief"

Nicht das Bildungssystem muss sich ändern, sondern die Schulen. Das fordert der Koblenzer Bildungsexperte Stefan Sell.

Trier. (wie) Der Pisa-Test und die Konsequenzen. Unser Redakteur Bernd Wientjes sprach darüber mit dem Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Fachhochschule Koblenz.

Überraschen Sie die neusten Pisa-Ergebnisse für Deutschland?

Sell: Wir sind weiterhin Mittelmaß, auch wenn wir uns gegenüber 2000 leicht verbessert haben bei den Lesefähigkeiten. Diese Verbesserung ist aber nicht erstaunlich. Das Bildungssystem hat sich auf Pisa besser eingestellt, die Schüler werden also schlichtweg besser vorbereitet.

Das heißt, eigentlich hat sich gar nicht so viel im deutschen Bildungssystem verändert?

Sell: Doch. Die Zahl der Risikoschüler hat sich verringert, also derjenigen, die nur auf Grundschulniveau lesen und rechnen können. Was mich aber beunruhigt, ist, dass der Rückgang bei diesen Risikoschülern bei den Mädchen doppelt so hoch ist wie bei den Jungen. Anders gesagt: Die Jungen sind doppelt so stark von dem Risiko betroffen wie die Mädchen.

Was bedeutet das?

Sell: Unsere Jungs haben ein echtes Problem in unserem Schulsystem.

Keine neue Erkenntnis, oder?

Sell: Eben. Die Diskussion über Jungs als Bildungsverlierer ist schon seit ein paar Jahren im Gange. Aber anscheinend ist unser Bildungssystem nicht in der Lage, darauf einzugehen. Das Problem scheint sich noch verstärkt zu haben. Hier läuft irgendetwas richtig schief.

Und was?

Sell: Ich glaube den Schulen fehlen die Kompetenzen mit den Jungen angemessen umzugehen. Sie sind schlichtweg überfordert, auf die veränderten Bedürfnisse einzugehen. Wir brauchen einen Innovationsschub im Unterricht. Beim klassischen Chemieunterricht zum Beispiel schalten bestimmt 80 Prozent der Jungs ab. Fragt man sie aber, mit welchen Tricks man es schafft, den Fußballrasen dauerhaft grün zu halten, dann interessiert sie das auch.

Dazu brauchen wir aber doch keine Reform des Bildungssystems.

Sell: Richtig. Die Schulen müssen sich auf ihre Schüler einstellen Von der Unterrichtsqualität hängt der Bildungserfolg ab. Und der ist an den Schulen am größten, die sich nicht an starre Lehrpläne halten müssen und einen großen Spielraum bei der Gestaltung des Unterrichts haben. Die Schulen brauchen mehr Freiraum.

Warum schlagen sich die Reformen, die es nach dem Pisa-Schock gegeben hat, nicht so nieder?

Sell: Bei Pisa werden 5000 Schüler im Alter von 15 Jahren getestet. Nach der Pisa-Studie von 2000 wurde die vorschulische Bildung ausgebaut, auch in den Grundschulen hat sich sehr viel getan. Wenn also zwischen Ende der Grundschule und Ende der Sekundarstufe, in der sich die getesteten Schüler befinden, ein solcher Absturz feststellbar ist, muss irgendwas in dieser Zeit schief laufen. Es bringt also nichts, nur bei der Grundschulbildung etwas zu ändern.

Ist die Abschaffung der Hauptschule wie jetzt in Rheinland-Pfalz beschlossen, der richtige Weg?

Sell: Konsequent wäre ein echtes zweigliedriges Schulsystem gewesen. Aber der Trend geht in die richtige Richtung. Es muss sich aber was an der Unterrichtsform ändern. Etwa an den Gymnasien, auf die wie früher auf die Hauptschulen, mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs wechselt. Zur Person Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der FH Koblenz und Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik, Vor seinem Abitur und der Hochschullaufbahn machte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger.

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