"Irgendwann wird Erdogan fallen" - TV-Interview mit dem Trierer Türkei-Kenner Hans-Heiner Kühne

Trier · Als der Trierer Jurist Hans-Heiner Kühne bei seinem letzten Istanbul-Besuch vor drei Wochen aus einem Restaurant kam, hörte er plötzlich Schüsse und sah in den Straßen Panzer auffahren. Erst später an jenem Abend erfuhr der emeritierte Strafrechtsprofessor, dass er soeben Zeuge eines versuchten Militärputsches geworden war.

Der Trierer Jura-Professor Hans-Heiner Kühne fordert die Legalisierung von Marihuana.

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Foto: Friedemann Vetter

Mit dem Türkei-Experten sprachen Isabel Funk, Damian Schwickerath und Rolf Seydewitz.

Herr Kühne, nach dem Putsch in der Türkei sind bislang Zehntausende verhaftet worden. Wie schätzen Sie dies ein?
Kühne: Wenn die Leute, die beim Militär und bei der Polizei verhaftet worden sind, am Putsch teilgenommen hätten, wäre er erfolgreich gewesen. Das türkische Militär ist gut organisiert, die Soldaten haben Kampferfahrung. Und sie wissen, wie man putscht. Das haben sie ja häufig genug gemacht.

Klingt nicht nach einer von langer Hand vorbereiteten Aktion der Putschisten.…
Kühne: Mein Eindruck ist, dass da ein paar Geheimdienstagenten einer Gruppe Unzufriedener gesagt haben, wenn ihr jetzt nicht losschlagt, werdet ihr verhaftet. Und dann haben die ziemlich unkoordiniert losgeschlagen und sind ins offene Messer gelaufen. Erdogan hat ja schon einen Tag nach dem kleinen, lächerlichen Putsch von einem Geschenk Gottes gesprochen.

Hat Erdogan den Putsch womöglich selbst eingefädelt?
Kühne: Nein, aber ich vermute, dass er ihn unterstützt hat.

Wie ist derzeit Ihr Kontakt zu Bekannten und Kollegen in der Türkei?
Kühne: Alle Kollegen sind abgetaucht. Sie antworten nicht mehr auf Mails. Inzwischen stelle ich auch schon gar keine Fragen mehr, um sie nicht zu gefährden.

Was will Erdogan mit der gegenwärtigen Verhaftungs- und Einschüchterungswelle erreichen, in deren Kontext er sich ja auch mit vielen anderen Staaten anlegt?
Kühne: Erdogan leidet unter einem gewissen Realitätsverlust. Er war in der vergangenen Jahren so erfolgreich, weil er einen glühenden Patriotismus gepredigt hat. Das kam an, die Türken sind ja ein sehr stolzes Volk. Türkische Freunde sagen mir, dass Erdogan jetzt ständig einen Gang höher schalten muss, um seine Macht zu behalten. Irgendwann wird er aber fallen.

Wie lange wird es bis dahin dauern?
Kühne: Im Augenblick hat er noch die begeisterte Zustimmung seines Volkes, der Rest duckt sich weg. Es ist wie bei den stalinistischen Säuberungen, auch wenn diese dramatischer waren. Erdogan nutzt den Popanz der Gülen-Bewegung, dabei ist es die große Frage, ob Gülen tatsächlich das Ganze initiiert hat. Beweise dafür gibt es bislang nicht.

Rheinland-Pfalz wird wegen der Entwicklung in der Türkei wohl die Gespräche mit dem islamischen Moscheeverein Ditib aussetzen. Wie beurteilen Sie dies?
Kühne: Ditib ist ein reines Machtinstrument der muslimischen Staatsführung. Mit denen sollten wir nicht unkontrolliert zusammenarbeiten oder sie gar mitfinanzieren. Man sollte nur solche Imame in Deutschland zulassen und predigen lassen, die Deutsch sprechen, in unserem Wertesystem groß geworden und am besten auch an deutschen Universitäten - etwa Münster oder Berlin - ausgebildet worden sind. Lässt man dagegen Ditip-Leute zu, würde dies bedeuten, die Politik von Erdogan umzusetzen.

Hat Frau Dreyer Sie schon mal nach Ihrer Einschätzung gefragt?
Kühne: Bislang nicht.

Wie wird sich die Entwicklung in der Türkei auf das hiesige Verhältnis von Deutschen und Türken auswirken?
Kühne: Es besteht die Gefahr, dass es zu Konfrontationen kommt. Denn auch die hier lebenden Türken sind größtenteils Erdogan-Anhänger. Die Schwierigkeit besteht in der türkischen Mentalität, die konfrontative Diskussionen kaum zulässt. Die türkischen Gesprächspartner machen dann sofort zu.

Wie sollte die deutsche Politik darauf reagieren?
Kühne: Zunächst einmal sollte man der Türkei deutlich machen, dass es so nicht geht. Angesichts der Vorkommnisse reicht es nicht aus, wenn man nur diplomatisch verklausuliert sagt: Wir sind besorgt. Das ist ein dramatischer Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und die europäische Menschenrechtskonvention. Demokratie ist nicht nur Herrschaft des Volkes, sondern auch Gewaltenteilung. Und die wird in der Türkei derzeit völlig ignoriert, indem Erdogan die Justiz plattgemacht hat.

Wie wird sich der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei entwickeln?
Kühne: Ich glaube, dass Erdogan ihn platzen lassen wird. Denn die geforderten Reiseerleichterungen wird er nicht bekommen.

Welcher Politiker mit eher moderatem Auftreten könnte denn eines Tages auf Erdogan folgen?
Kühne: Vielleicht der ehemalige Ministerpräsident Abdullah Gül. Es fällt auf, dass er sich derzeit zurückhält und gar nicht auftritt. Gül ist zwar auch ein Konservativer, aber nicht so verbohrt wie Erdogan: der Einzige, der es vielleicht könnte.

Wie sehen Ihre Türkei-Aktivitäten aus?
Kühne: Im Augenblick gibt es keine. Weil sich die Situation schon seit längerem immer mehr verschlechtert hat, habe ich schon im vergangenen August meine Zelte in Istanbul abgebrochen. Es ist schade. Ich liebe die Türkei.

Wird Erdogan die Todesstrafe wieder einführen?
Kühne: Ich glaube nicht. Hat er nicht nötig. Das könnte er bei Bedarf auch anders erledigen. Übrigens waren die Gefängnisse schon vor der Verhaftungswelle überfüllt. Es ist mir schleierhaft, wo und wie die Inhaftierten jetzt untergebracht sind. Die Zustände können nur mittelalterlich sein.

Kann man eigentlich noch in die Türkei reisen?
Kühne: Ich würde derzeit nicht unbedingt nach Istanbul fahren. Aber die klassischen Urlaubsregionen sind unproblematisch und sicher. Da kann man die Sonne und das Meer genießen. sey

Zur Person
Der Rechtswissenschaftler und Kriminologe Hans-Heiner Kühne (72) war bis zu seiner Pensionierung 2008 Professor an der Universität Trier. Er lehrte und unterrichtete nahezu 20 Jahre in der Türkei, unter anderem in Istanbul. Die dortige Kültür Universität verlieh Hans-Heiner Kühne vor sieben Jahren die Ehrendoktorwürde. sey

Lesen sich auch: Landesregierung stoppt Gespräche mit vier islamischen Verbänden

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