Jung wankt im Nachhall der Kunduz-Bomben

Spannende Frage gestern in Berlin: Wird Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wegen seiner Verantwortung für das Bundeswehr-Bombardement in Afghanistan nun vom jetzigen Amt als Arbeitsminister zurücktreten? Er tat es nicht.

Berlin. Buchstäblich wie eine Bombe schlugen gestern Enthüllungen der "Bild"-Zeitung über den von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff in Afghanistan ein, der am 4. September wahrscheinlich bis zu 142 Todesopfer gefordert hat. Demnach wusste das vom heutigen Arbeitsminister Franz Josef Jung (CDU) geleitete Verteidigungsministerium schon am Tag des Zwischenfalls aus Berichten der eigenen Feldjäger, dass es zivile Opfer gab, und auch, dass der Befehl zur Bombardierung auf dünner Informationsgrundlage beruhte. Jung und seine Sprecher hatten der Öffentlichkeit jedoch seinerzeit eine andere Darstellung geliefert. Der Politiker muss nun mit einem Untersuchungsausschuss rechnen. Sein Stuhl wackelte gestern bedenklich. Zwei Spitzenbeamte mussten gehen.

Kanzlerin Angela Merkel vermied am Nachmittag eine klare Antwort auf die Frage, ob Jung noch ihr Vertrauen habe. Der "jetzige Verteidigungsminister" Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) genieße ihre volle Unterstützung bei der Herstellung von Transparenz, sagte sie lediglich. Guttenberg verkündete am Morgen im Bundestag, dass Generalinspektor Wolfgang Schneiderhan und Staatssekretär Peter Wichert "auf eigenen Wunsch" aus ihren Ämtern ausschieden. Die Formel ist kaum mehr als ein ehrenhafter Abgang für die Geschassten. Denn Guttenberg fühlt sich auch persönlich von beiden hinters Licht geführt.

Anfang November, bei seiner Amtsübernahme, waren ihm zwar die Nato-Untersuchungen über den Zwischenfall gezeigt worden - woraufhin er sagte, der Luftangriff sei "militärisch angemessen" gewesen - nicht aber die weitergehenden Informationen der deutschen Feldjäger. "Das wurde nicht vorgelegt", sagte Guttenberg gestern im Stile eines Anklägers.

Guttenberg fühlt sich hinters Licht geführt



Wichert, früher Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion, war von 1991 bis 2000 und dann wieder seit 2005 Staatsekretär im Verteidigungsministerium. Der in der Bundeswehr hoch angesehene Schneiderhahn wurde unter SPD-Minister Scharping 2002 zum Generalinspekteur ernannt; er hätte eigentlich schon vor zwei Jahren in den Ruhestand gehen sollen, machte aber auf Jungs Bitte weiter.

Laut "Bild" informierten die Feldjäger aus Afghanistan bereits am 4. September, kurz nach der Bombardierung zweier von den Taliban entführter Tanklastwagen, die Einsatzleitung in Potsdam über mögliche zivile Opfer. Unter anderem war in den Berichten von Kindern und Jugendlichen die Rede, die verletzt in Krankenhäusern behandelt würden. Trotzdem beharrte das Verteidigungsministerium damals darauf, dass es bei der Detonation zweier amerikanischer 250-Kilo-Bomben keine zivilen Opfer gegeben habe.

Fragwürdig ist nun auch die damalige Darstellung des Ministers, Oberst Klein, der den Angriffsbefehl gab, habe davon ausgehen müssen, dass sich nur Taliban an den gekaperten Tanklastwagen befanden. "Bild" veröffentlichte ein Video der US-Kampfflieger. Es zeigt schemenhaft die Laster und daneben viele kleine Pünktchen, Menschen, die sich hin- und herbewegen, ehe sie in einer gewaltigen Explosion pulverisiert wurden. Diese Bilder sah live auch Oberst Klein in jener Nacht.

Jung weigerte sich gestern zunächst, direkt im Bundestag Stellung zu nehmen. Am Abend erklärte er sich dann dem Parlament. Er sei von Schneiderhan erst Anfang Oktober über die Existenz des Feldjäger-Berichtes informiert worden, ohne vom Inhalt jedoch "konkrete Kenntnis" bekommen zu haben.

Der Opposition freilich reicht das nicht. "Das war eine ungeheuerliche Stellungnahme", sagte Grünen-Fraktion-Chefin Renate Künast unserer Zeitung. Jung habe keine aktive Aufklärungsrolle übernommen. "Wir sind für die Umwandlung des Verteidigungsausschusses in einen Untersuchungsausschuss." Die SPD will vom Verlauf der Sitzung des Verteidigungsausschusses heute ihr weiteres Handeln abhängig machen. Deutliche Distanz zu Jung ließ auch der Koalitionspartneer FDP spüren. Intern hieß es, es komme sehr darauf an, wie Jung sich in den nächsten Tagen verhalte.

Meinung

Leichtgewicht oder Lügner

Die Affäre um den Bundeswehr-Bombenangriff vom 4. September am Kunduz-River in Afghanistan lässt dem CDU-Politiker und heutigen Arbeitsminister Franz Josef Jung zwei Auswege, die beide unangenehm sind: Entweder es erweist sich, und danach sieht es am ehesten aus, dass das Ministerium dem damaligen Verteidigungsminister wichtige Erkenntnisse über den Zwischenfall vorenthalten hat. Dann steht Jung als einer da, den man leicht mal an der Nase herumführen kann und der sich herumführen lässt. Dann wäre er ein naives politisches Leichtgewicht. Oder - Variante zwei - es stellt sich heraus, dass Jung von den internen Informationen der eigenen Feldjäger sehr wohl wusste, wonach bei dem Angriff wahrscheinlich Zivilisten starben und wonach der Bombenbefehl auf höchst fragwürdiger Entscheidungsgrundlage erteilt wurde. Dann waren seine damaligen anderslautenden Erklärungen vor dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit Lügen. Dann bleibt dem heutigen Arbeitsminister nur der sofortige und unehrenhafte Rücktritt. Zwar hat sich Jung seinerzeit immer Hintertürchen offengehalten, hat nie mit Bestimmtheit gesagt, dass es keine zivilen Opfer gab, und ebenso nicht, dass der Angriffsbefehl unausweichlich war. Aber das waren immer nur Nebensätze in einer Hauptbotschaft, die da lautete: Die Aktion war richtig und notwendig, und außerdem weiß man gar nicht genau, ob überhaupt Zivilisten zu Schaden gekommen sind. Es waren Sätze, die sehr nach "Wo gehobelt wird, fallen Späne" klangen. Ein Untersuchungsausschuss ist unvermeidbar. Denn das hier ist keine Lappalie. Wenn es unter den 142 Todesopfern wahrscheinlich mehrere Dutzend unschuldige Zivilisten gab und wenn dieser "Kollateralschaden" bei Beachtung der Einsatzgrundsätze hätte vermieden werden können, dann wäre die Bombardierung ein schwerer politischer und militärischer Fehler gewesen, der massive Konsequenzen erfordert: personeller Art in der militärischen Führung und organisatorischer Art bei den Entscheidungsabläufen. Vor allem aber wäre sie ein Fall für den Staatsanwalt wegen des Verdachts auf ein Kriegsverbrechen. Ein Verteidigungsminister soll das Land verteidigen und seine Verfassung, nicht den Mist, den einzelne Offiziere verzapfen. Wenn ein Politiker das nicht leistet, dann braucht man ihn nicht an der Spitze des Verteidigungsministeriums - und warum an der eines anderen Hauses? nachrichten.red@volksfreund.de

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