Kalkulierte Hilfsbereitschaft

TRIER/WITTLICH. Mehr arbeiten, weniger Freizeit: So sieht die Zukunft der deutschen Gesellschaft aus. Darüber sprachen wir mit dem Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski.

Deutschland kann sich den "Anspruchsstaat", wie Sie es nennen, nicht mehr leisten. Uns soll es in Zukunft nicht mehr so gut gehen. Worauf müssen wir uns einstellen?Opaschowski: Die Ansprüche wurden von Generation zu Generation vererbt. In den letzten 30 Jahren wurde man geboren und konnte Ansprüche stellen. Das hatte seinen Sinn und seine Berechtigung vor dem Hintergrund eines ständig steigenden Wohlstands. Dieser Zenit ist aber überschritten. Wir haben uns genauso lange mit Arbeitslosigkeit arrangiert, aber da ist ein Punkt erreicht, wo mit dem sinkenden Wohlstand auch die soziale Wohlfahrt zurückgeht. Und die Folge davon? Opaschowski: Die Menschen werden wieder auf sich selbst zurückverwiesen - zu einer Art Selbsthilfe-Gesellschaft. Die Menschen müssen jetzt mehr zusammenrücken und können nicht mehr sagen: Der Staat wird es schon richten. Werden wir also alle ärmer, oder müssen wir den bestehenden Wohlstand nur "gerechter" verteilen? Opaschowski: Wohlstand kann man unterschiedlich definieren. Dazu gehört Geld und Zeit. Eine Einkommenssteigerung ist derzeit nicht mehr möglich. Im Gegenteil. Wir müssen mehr arbeiten für den gleichen Preis. Aber das Leben besteht aus zwei Facetten, dem Lebensstandard und der Qualität. Und für letzteres ist jeder selbst verantwortlich. Dazu gehört nicht nur Geld, sondern auch Gesundheit, Familie, Nachbarschaft und Gemeinwesen sowie Gesellschaft, Kultur, Bildung, Natur und Religion. Darauf können und wollen wir nicht verzichten. Das wird auch weiter eine große Bedeutung haben. Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen für das Arbeitsleben. Mit welchen Konsequenzen? Opaschowski: Arbeiten rund um die Uhr, samstags und sonntags, Schicht- und Nachtarbeiten werden zunehmen. Viele werden froh sein, überhaupt einen Job zu haben. Die Kluft zwischen den vertraglichen Arbeitszeiten und den tatsächlichen Arbeitszeiten wird immer größer werden. Von gewünschten Arbeitszeiten sind wir weit entfernt. Das bringt nicht nur Zeitprobleme mit sich, sondern auch Gesundheitsprobleme. Gesundheit und Wohlbefinden werden aufs Spiel gesetzt, vor allem bei den Hochqualifizierten, die mehr und länger arbeiten müssen. Also eine Art Selbstausbeutung zugunsten des Wirtschaftsaufschwungs? Opaschowski: Ja, wobei die Selbstausbeutung noch größer bei den Existenzgründern, den Ich-AGs und Freiberuflern ist. Sie werden noch mehr gefordert, der Konkurrenzdruck wird noch größer. Selbst der kleinste Taxifahrer hat es sich abgewöhnt, noch den Stundenlohn zu berechnen. Wer profitiert denn von einem solchen System? Opaschowski: Es findet im Moment durch die Globalisierung ein Austausch statt, auch des Wohlstands. Ein Teil davon geht bei uns verloren, damit woanders mehr Wohlstand entsteht. Wir befinden uns in einem Übergangsstadium. Vor dem Hintergrund des sozialen Ausgleichs in der Welt ist es akzeptabel, dass die Armen ein Stück des Reichtums bekommen, bevor sie ihn sich selbst holen. Wir tun ganz gut daran, freiwillig einen Teil abzugeben. Wir werden immer länger arbeiten müssen bei gleichem Lohn - mit Einkommensverlusten. Gleichzeitig arbeiten wir länger - mit Zeitverlusten. Wie kommen wir aus diesem Dilemma? Opaschowski: Wenn diese Zeitnot einen Grenzwert erreicht, dann schießt er zurück. Dann hat keiner etwas davon. Die Arbeitgeber brauchen auch Erlebniskonsumenten, die Geld ausgeben und Zeit dazu haben. Wenn dieser Punkt erreicht ist, nützt Arbeitszeitverlängerung gar nichts. Wie ließe sich das verbessern? Opaschowski: Ich glaube, man könnte durch infrastrukturelle Verbesserungen eine ganze Menge erreichen. Angefangen bei der Kinderbetreuung. Sie darf nicht nur ins Private verdrängt werden, sondern Unternehmen müssten auch dafür verantwortlich sein. Wenn 40 Prozent der Akademikerinnen nie wieder in den Beruf zurückkehren, ist das eine Verschleuderung von Ressourcen und Talenten, die sich nicht rechnen kann. Deshalb müssten Arbeitgeber mit jeder Einstellung Gutscheine ausgeben, die eine Kinderbetreuung gewährleistet. Idealerweise müsste es einen Rechtsanspruch darauf geben. Dabei scheint es eine Renaissance der Familie zu geben. Warum? Opaschowski: Die Kinderlosigkeit ist der Trend der vergangenen 20 Jahre, den viele nicht mal wahrgenommen haben, weil gleichzeitig die Lebensverlängerung zunahm. Heute sagt man, jede Kindergeneration ist um ein Drittel kleiner als die Elterngeneration. Ich stelle einen Wertewandel fest. Bis der aber demografisch wirksam wird, vergehen 20 bis 30 Jahre. Die Renaissance der Familie kündigt sich an, ausgelöst durch viele zeitgeschichtliche Ereignisse wie den 11. September. Was Beständigkeit und Rückhalt im Leben gibt, ist eben die Familie, vor allem für die jüngere Generation. Das ist ein Hoffnungsschimmer. Eine Entwicklung also vom Individualismus zur Gemeinschaft? Opaschowski: Ja. Natürlich bleibt der Individualismus verändert erhalten. Wenn ich von der Wiederkehr prosozialer Werte rede, heißt das nicht, dass jeder ab sofort auf Nächstenliebe macht. Man denkt an sich und profitiert dann am meisten, wenn man etwas für andere tut. Also: ,Ich helfe dir, damit du mir hilfst.' Es ist eine Art kalkulierte Hilfsbereitschaft, ein neuer Pragmatismus. Laut Ihrer Studie gibt es eine Übertragung der Trends von Produktivität und Nützlichkeit aus der Arbeitswelt in die Privatwelt. Wir wirkt sich das auf meinen Alltag aus? Opaschowski: Dadurch, dass jeder wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird, muss jeder sein Lebenskonzept selber basteln. Dann fragt man schon, welche Unternehmung mir auch im Privaten etwas einbringt. Ein ökonomischer Umgang also mit den eigenen Ressourcen, mit Zeit und mit sozialen Engagements. Ist dieser Trend eine positive Entwicklung der Gesellschaft? Opaschowski: Durchaus. Daneben aber gibt es eine Reihe problematischer Entwicklungen in der Arbeitswelt, Kinderlosigkeit, Zuwanderung, Überalterung. Aber wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir den Hebel für nachhaltige Veränderungen ansetzen können. Die Fragen stellte unsere Redakteurin Sabine Schwadorf. Horst Opaschowski spricht im Rahmen des Unternehmerforums Wittlich am Freitag, 24. September, zum Thema "Die Welt im Wandel: Der Mensch im Mittelpunkt - Zukunftstrends für unser Leben von morgen". Die Thesen und Ergebnisse der neuesten Studien sind auch in Opaschowskis Buch "Deutschland 2020. Wie wir morgen leben - Prognosen der Wissenschaft", Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 39,90 Euro, nachzulesen. Informationen und Anmeldung zu der Veranstaltung beim Institut für Mittelstandsökonomie (Inmit) in Trier, Martina Josten, Telefon 0651/14577-18 und unter www. unternehmerforum-wittlich.de.

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