Kalter Diebstahl von Lebenschancen

BERLIN. Nicht Schlusslicht, aber auch nicht vorbildliches Ausnahmeland: In Deutschland ist die Korruption eher auf dem Vormarsch als auf dem Rückzug.

Korruption unter Beteiligung der Wirtschaft ist in Deutschland sehr weit verbreitet. Experten gehen davon aus, dass es pro Jahr zu 140 000 bis 160 000 Korruptionsfällen kommt. Nur ein Bruchteil davon, fünf Prozent, wird aufgedeckt und gelangt durch strafrechtliche Ermittlungsverfahren an die Öffentlichkeit. Die Bekämpfung der Korruption dagegen stagniert in Deutschland. Dieses ernüchternde Fazit zog "Transparency International" am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Diese unabhängige, mit 90 nationalen Sektionen weltweit aktive Organisation hat sich die Bekämpfung der Korruption zum Ziel gesetzt. Im Kampf gegen die Korruption ist Deutschland erstmals seit Jahren im internationalen Vergleich wieder zurückgefallen. Unter den 159 Nationen, die "Transparency International" (TI) inzwischen regelmäßig untersucht und statistisch erfasst, nimmt die Bundesrepublik nur noch Platz 16 ein und wurde von Hongkong überholt, das inzwischen besser dasteht. Deutlich weniger Korruption als in Deutschland gibt es in allen skandinavischen Ländern, in Neuseeland, Singapur, Australien, Österreich, der Schweiz, Kanada, Holland, Großbritannien und Luxemburg. Klarer Spitzenreiter und Vorbild ist Island, wo Bestechlichkeit nahezu nicht vorkommt. Mehr Bestechung zwischen privaten Firmen

Traurige Schlusslichter und damit hochkorrupt sind dagegen Länder wie Tschad, Turkmenistan, Bangladesch oder Haiti und Nigeria. Die Türkei, Japan, Frankreich, die Slowakei und Estland konnten sich verbessern, Russland oder Costa Rica haben sich verschlechtert. ,,Korruption ist ein wesentlicher Grund für die Armut in vielen Entwicklungsländern wie auch ein Hindernis, diese zu überwinden. Sie ist kalter und kalkulierter Diebstahl von Lebenschancen von Männern, Frauen und Kindern", sagte Peter Eigen, der TI-Vorsitzende. Die Fälle von Bestechung zwischen privaten Firmen häufen sich in jüngster Zeit in Deutschland, wie aus dem gestern vorgelegten Korruptionsbericht hervorgeht. Als Beispiel werden die Korruptionsvorwürfe gegen Vorstandsmitglieder oder leitende Angestellte bei BMW, Daimler-Chrysler, Infineon, VW und Siemens genannt. Als "wirklich skandalös" bezeichnete der stellvertretende TI-Vorsitzende für Deutschland, Peter Blomberg, die Affäre bei Volkswagen. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass sich Betriebsräte unter Mitwissen des Personalvorstands aus der Unternehmenskasse bedient hätten, habe das eine völlig neue Qualität. Hintergrund der Zunahme von Korruption ist nach Einschätzung von Transparency Deutschland, dass sich in der Wirtschaft die Strukturen massiv Richtung Outsourcing (Auslagerung) verschieben: "Die Vervielfachung der Lieferanten hat zu einer erheblichen Steigerung von Möglichkeiten zur Korruption geführt. Auch nehmen Loyalität und gegenseitiges Vertrauen da ab, wo sich Arbeitnehmer nur noch als Kostenfaktor behandelt sehen. Für Korruption ein gefundener Nährboden." Zu den Bereichen, die besonders anfällig für Korruption sind, gehören laut TI die Baubranche, der Dienstleistungsbereich, das Handwerk, der Handel sowie Pharma und Gesundheit. Angesichts der in jüngster Zeit starken Häufung spektakulärer Korruptionsfälle forderte Transparency gestern von den hiesigen Unternehmen, Bestechung und Vorteilsnahme entschiedener zu bekämpfen und Schwachstellen endlich konsequenter und gezielter aufzudecken. Korruptionsbekämpfung müsse auch in der Politik ein Kernthema in der Diskussion um den Standort Deutschland werden. Nachdrücklich forderte die Antikorruptions-Organisation von der künftigen Bundesregierung, endlich ein "nationales Korruptionsregister" einzuführen, "damit Unternehmen, gegen die schwer wiegender Korruptionsverdacht besteht, per schwarze Liste für einige Zeit von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden können".

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