Keine glänzenden Debatten, aber doch ein vitales Parlament

Als in Berlin die Große Koalition installiert wurde, war zu befürchten, dass die Koalitionsparteien wegen der erdrückenden Mehrheit ihrer Abgeordneten das Parlament nach Belieben beherrschen würden. So schlimm ist es bei weitem nicht geworden.

Berlin. Der offizielle Teil der 16. Legislaturperiode - zwei Sondersitzungen stehen noch aus - endete gestern mit einem Akt großkoalitionärer Disziplin. Die zwang die SPD wider eigene Interessen, gemeinsam mit der Union einen Antrag der Grünen zur Wahlrechtsreform niederzustimmen. In der Nacht zuvor allerdings gab es ein anderes Bild. Da herrschte, Schlag fünf vor zwölf, Chaos im Parlament. Ganz so scheintot, wie man angesichts einer Großen Koalition vorhergesagt hatte, ist der Bundestag also nicht. Die Situation um Mitternacht entstand wegen eines Antrags der Grünen, Genmais in Deutschland zu verbieten.

Vielleicht war es nur ein Spielchen, vielleicht ernst, jedenfalls hatte die SPD durchsickern lassen, dass etliche Sozialdemokraten dem Grünen-Antrag zustimmen würden. Ein abruptes Ende durch Koalitionsbruch in letzter Stunde drohte, doch die Union fand einen Ausweg. Sie beantragte eine Fraktionssondersitzung und trommelte während der halbstündigen Pause ihre Abgeordneten von den in diesen Tagen zahlreich in Berlin stattfindenden Festen zusammen. Darunter auch Kanzlerin Angela Merkel. Um 0.27 Uhr war die Mehrheit gegen den Grünen-Antrag gesichert. Von der SPD übrigens stimmten letztlich doch nur vier Abgeordnete mit der Opposition.

Weil die Große Koalition über erdrückende 73 Prozent der Sitze verfügte, hatten viele für die Legislaturperiode ein langweiliges Parlament erwartet. Die Politik werde sich automatisch in die Regierung und den Koalitionsausschuss verlagern. Und die Mini-Opposition, noch dazu in drei Parteien zersplittert, sei chancenlos. Aber jedes Wasser sucht sich seinen Weg. Auch der Wille von Volksvertretern.

Einer hieß Gruppenantrag. Vor allen Dingen bei ethisch-moralischen Fragen bildeten sich mehrfach Initiativen über die Fraktionsgrenzen hinweg und erzwangen offene Abstimmungen. Das war so bei der Stammzellenforschung, der Patientenverfügung und der Spätabtreibung. Mit Gruppenanträgen zur Einstufung der NS-Kriegsverräter-Urteile als Unrecht und zum Nichtraucherschutz stieß man auch in andere Bereiche vor. In all diesen Fragen gab es im Parlament jeweils die intensivsten und besten Debatten. Einen Gruppenantrag zum Tempolimit verhinderten die Fraktionsführungen, doch ist vorstellbar, dass die nächste Generation von Abgeordneten noch weniger folgsam sein wird. Gruppenanträge, so zeigte sich, sind ein probates Mittel, um die wirkliche Mehrheitsmeinung des Parlaments jenseits von Parteitaktiken zu mobilisieren.

Ein anderes Phänomen war das vom SPD-Fraktionschef so bezeichnete "Struck'sche Gesetz", wonach kein Vorhaben den Bundestag so verlässt, wie es ihn erreicht hat. In den Regierungsfraktionen wuchs im Lauf der Zeit die Neigung, die Dinge zu hinterfragen und manchmal auch zu hintertreiben. Bei der Föderalismusreform etwa musste Struck auf Druck seiner Abgeordnetenbasis nachverhandeln. Auch Kanzlerin Angela Merkel bekam gelegentlich den Unmut in den Reihen ihrer Unions-Abgeordneten zu spüren, etwa beim Postmindestlohn. Mehrfach wurden Gesetzentwürfe wieder von der Tagesordnung genommen und nachverhandelt. Einige scheiterten ganz. Es ist also in den zurückliegenden Jahren durchaus das Selbstbewusstsein in den Regierungsfraktionen gewachsen, dass sie nicht nur Stimmvieh für die Vorlagen der Minister sind.

Der Opposition ist es immerhin gelungen, zwei Untersuchungsausschüsse zu platzieren, einen wegen der Bank Hypo Real Estate, einen wegen der Verstrickungen Deutschlands in den Irakkrieg. Dies nicht nur, weil die drei kleinen Parteien sich punktuell dafür zusammenschlossen, sondern auch, weil die Regierungsmehrheit ihnen ihre Möglichkeiten in der Geschäftsordnung sogar etwas erweiterte. Wirkliche Sternstunden hat der Bundestag in dieser Legislaturperiode nicht erlebt, wenn man einmal von der Debatte zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel absieht. Es fehlten die großen Themen, wie sie der Bundestag früher immer mal hatte, von den Ost-Verträgen bis zur Agenda 2010. Die "Sternstunden" waren stiller Natur: die parlamentarische Beratung der Rettungsschirme und Konjunkturpakete nach Ausbruch der Finanzkrise. Hier wurde in den Ausschüssen so intensiv und konstruktiv gearbeitet wie wohl noch nie in der Geschichte des Parlaments.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort