Kernkraft spaltet

TRIER. Nein danke oder ja bitte? Die Atomkraft spaltet Deutschland. Soll sie langfristig genutzt werden? 20 Jahre nach dem Unglück von Tschernobyl zeichnet sich eine klare Haltung in dieser Frage ebenso wenig ab wie die Ausmaße des Super-Gaus.

Tschernobyl - dieser Name ist zum Sinnbild für das Spannungsfeld von Chancen und Risiken neuer Technologien geworden. Er steht für den Streit darüber, welche Gefahren man in Kauf nehmen darf. Ein Streit, der zum 20. Jahrestag der ukrainischen Reaktor-Katastrophe hier zu Lande aktuell ist wie lange nicht mehr. Soll Deutschland am Atomausstieg festhalten, den die rot-grüne Regierung vor sechs Jahren beschlossen hat?Alles halb so schlimm?

Oder haben der explodierende Energiebedarf der Schwellenländer China und Indien, der Konflikt um das iranische Atomprogramm die Situation grundlegend verändert? Müssen die Argumente neu abgewogen werden: absolute Sicherheit vor einem Atomunfall gegen gesicherte Energieversorgung, gegen Abhängigkeit vom Nahen Osten? Ja, meinen viele Politiker der Unionsparteien, und FDP wie Energiekonzerne sowieso. Die Restlaufzeit der deutschen Atomkraftwerke müsse verlängert werden, fordern sie. Ihre Argumente: Nur mit der Kernkraft sei die Energieversorgung gesichert, und Deutschland könne sich nicht von der weltweiten Entwicklung abkoppeln. Global gesehen ist die Atomenergie auf dem Vormarsch: Ende 2005 waren 444 Kernkraftwerke in Betrieb, 23 Anlagen befanden sich im Bau, weitere 38 Reaktorblöcke waren bis 2020 geplant. Der Energiegipfel vor wenigen Wochen habe die Chance der deutschen Kernkraft-Befürworter erhöht, sich durchzusetzen, meinen Beobachter. SPD und vor allem die Grünen sowie Umweltverbände halten an dem Atomausstieg fest: Die derzeit 17 Atomkraftwerke an zwölf Standorten müssten wie vereinbart bis 2021 abgeschaltet werden. In allen Industrieanlagen passierten Unfälle, argumentieren sie und verweisen auf eine lange Liste von Zwischenfällen. Atomkraft sei unbeherrschbar, Fehler hätten katastrophale Folgen. Auch an diesem Punkt scheiden sich die Geister. Das Ausmaß des Reaktorunfalls von Tschernobyl ist in den vergangenen Monaten in die Diskussion geraten. "Alles halb so schlimm", lautet der Tenor einer Studie von Weltgesundheitsorganisation WHO und der Kernkraft-freundlichen Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA. Etwa 4000 Menschen seien bisher wegen den Unfalls gestorben oder könnten noch sterben - deutlich weniger als bis dahin angenommen. Ein von den Grünen im Europaparlament in Auftrag gegebener Report britischer Wissenschaftler kommt dagegen zu dem Ergebnis, insgesamt sei mit 30 000 bis 60 000 Todesopfern zu rechnen. Die Vereinigung "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" geht sogar von noch höheren Zahlen aus. Allein für die Bundesrepublik sagt der britische Report 2000 zusätzliche Krebs-Tote voraus und merkt an, auf 44 Prozent der Fläche Deutschlands sei radioaktives Cäsium-137 aus Tschernobyl gelangt. Die Gegenseite argumentiert, dass Ärzte nicht erkennen können, ob ein Krebs tatsächlich durch Strahlen ausgelöst wurde. Erhöhte Krebsraten könnten auch auf die nach dem Reaktorunfall neu eingerichteten oder verbesserten Krebsregister zurückzuführen sein. Gründe für die gesunkene Lebenserwartung von Männern aus dem Katastrophengebiet seien in erster Linie Alkoholmissbrauch, Aids und Suizid. Das wiederum wird andererseits als Folge der nach dem Unglück weit verbreiteten Resignation gedeutet. Wie viele Menschen der Gau in Tschernobyl letztlich das Leben kostet, wird damit ebenso eine Frage des Standpunktes bleiben wie die nach dem Verhältnis von Chancen und Risiken der Kernenergie. Die Deutschen sind in dieser Hinsicht gespalten: Einer aktuellen Emnid-Umfrage zufolge spricht sich genau die Hälfte der Bundesbürger gegen eine längerfristige Nutzung von Atomkraft aus, während 47 Prozent dafür plädieren.Zeitzeugen-Texte Seite 28

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