Kinder fühlen sich als Versager

TRIER. Viele Kinder haben noch immer Angst vor den Zeugnissen. Die Bad Kreuznacher Psychiaterin Marlene Marthaler warnt davor, mit Strafen und Schuldzuweisungen die Schüler unter Druck zu setzen.

Kinder wachsen in einer Leistungsgesellschaft auf. Und wenn sie am Ende des Schuljahres dann in Form der Zeugnisse schwarz auf weiß gezeigt bekommen, dass sie die Leistungen nicht erfüllt haben, fühlen sie sich als Versager. "Zeugnisse sind eine knallharte Leistungsbilanz", sagt die Kinder- und Jugend-Psychiaterin Marlene Marthaler. Sie ist Vorsitzende des Landesverbands der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rheinland-Pfalz. Viele ihrer jungen Patienten behandelt sie wegen Noten- und Schulangst. Je höher der Bildungsgrad der Eltern, desto größer werde auch der Druck, gute Noten nach Hause zu bringen. "In einem Akademiker-Haushalt wird oft jede Note hinterfragt", hat die Psychiaterin festgestellt. Der größte Fehler, den Eltern bei schlechten Zeugnissen machen könnten, seien Schuldzuweisungen gegenüber dem Kind. Das Kind verliere dadurch sein Selbstwertgefühl und werde total frustriert. "Man sollte ihm vermitteln, dass man versucht zu helfen, bessere Noten zu schreiben." Dazu müsse eine intensive Ursachenforschung betrieben werden. Auf jeden Fall müsse mit dem Kind geredet werden: Was will es im nächsten Jahr besser machen? Wo sieht es Chancen? Lernblockaden müssten ausgeschaltet werden. Reden sei auf jeden Fall sinnvoller als jede Art von Strafe. Oftmals ist ein schlechtes Zeugnis auch Ergebnis einer Überforderung: "Die Eltern sollten sich fragen, ob das Kind auf der richtigen Schule ist und ob es nicht besser wäre, die Schule zu wechseln." Doch wo fängt ein schlechtes Zeugnis an? Marlene Marthaler stellt in ihrer Praxis fest, dass die Erwartungen vieler Eltern an Noten viel zu hoch sind. "Ein Zeugnis mit einem Schnitt von zwei bis drei muss man nicht auseinander nehmen." Trotzdem gebe es oft wegen solcher Noten Streit zu Hause. "Ich kann nur raten, die Kirche im Dorf zu lassen." Viel wichtiger als schlechte Noten in Musik oder Zeichnen seien die so genannten Kopfnoten, also die Bewertung von Verhalten und Mitarbeit. "Wenn jemand darin Ungenügend hat, ist das wesentlich auffälliger, als wegen zwei Fünfen sitzen zu bleiben." Wie sollen sich Eltern bei schlechten Zeugnissen verhalten? Marlene Marthaler gibt Tipps: Eltern sollten für sich zulassen, dass ihr Kind auch einmal versagen kann. Eltern sollten mit ihren Kindern das Zeugnis Note für Note in Ruhe durchgehen. Eltern sollten rechtzeitig das Halbjahreszeugnis hervorholen und schauen, wo sich die Leistungen verbessert und verschlechtert haben könnten - so nehmen Eltern sich und den Kindern den Erwartungsdruck. Eltern sollten sich auf die Seite ihres Kindes stellen. Eltern sollten schlechte Noten als Chance betrachten: Sie sollten dem Kind helfen, entweder aus eigener Kraft oder mit professioneller Hilfe die Krise zu überwinden. Das Kind macht so eine wichtige Erfahrung und gewinnt wieder Vertrauen in die eigenen Stärken.

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