"Kinder sind geborene Lerner"

TRIER. In Rheinland-Pfalz sollen Eltern die Möglichkeit erhalten, ihre Kinder bereits mit fünf Jahren einzuschulen. Darüber und über eine Reform des Bildungssystems sprach der TV mit dem Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck.

 Spielerisches Lernen: Was in Kindergärten längst selbstverständlich ist, muss nach Meinung des Hamburger Experten Peter Struck auch in den Schulen einen höheren Stellenwert erhalten.Foto: TV -Archiv/Manuel Schmitt

Spielerisches Lernen: Was in Kindergärten längst selbstverständlich ist, muss nach Meinung des Hamburger Experten Peter Struck auch in den Schulen einen höheren Stellenwert erhalten.Foto: TV -Archiv/Manuel Schmitt

Wie sinnvoll ist eine frühere Einschulung? Struck: Die frühere Einschulung ist weltweiter Trend und mittlerweile auch in Deutschland verbreitet. Wenn heute ein Fünfjähriger eingeschult wird, ist er nicht mehr unbedingt der Jüngste, sondern gehört zu einem Drittel der Klasse. Kinder lernen einfach besser, je früher sie damit beginnen. Das Lernen muss aber altersgemäß sein: Es darf nicht durch Belehren erfolgen, sondern durch Spiel, Bewegung und musisch-Sein. Sind Fünfjährige überhaupt schulreif? Struck: Kinder sind heute früher schulreif als noch vor 20 Jahren. Sie lernen schon sehr früh durch Fernsehen, Bücher, Computer und Reisen. Und: 90 Prozent der Kinder gehen in den Kindergarten, wo ihre Entwicklung gefördert wird. Es gibt aber eine Riesen-Kluft bei den Sechsjährigen: Einige sind schon so weit wie Achtjährige früher waren. Diese Kinder langweilen sich, wenn sie nicht in die Schule kommen. Andererseits gibt es auch immer mehr Sechsjährige, die erst soweit sind wie früher Vierjährige. Das sind die vernachlässigten Kinder von überforderten Eltern. Für diese Kinder wäre es auch sehr wichtig, dass sie früher in die Schule kämen, um nachholen zu können, was ihnen in ihrer Entwicklung fehlt. Es muss immer der Einzelfall geprüft werden. Was aber bringt eine frühe Einschulung? Struck: Wir haben weltweit die längsten Bildungszeiten. Nirgendwo kommt man so spät in den Job wie in Deutschland. Außerdem lernen kleine Kinder besser als große. Das muss man nutzen. Muss dann eine Bildungsreform nicht bereits im Kindergarten ansetzen? Struck: Insgesamt gesehen sind die Erzieherinnen in den Kindergärten pädagogisch weiter als die Lehrer. Im Kindergarten wird viel über Bewegung, Spiel und Musisches vermittelt und nicht durch Belehrung. In Finnland etwa sind die Kindergärten echte Lernwerkstätten. Dort beginnt Bildung mit der Geburt, bei uns erst mit dem sechsten Lebensjahr. Leider sind in Deutschland die Kindergärten oft nur reine Aufbewahrungsanstalten für Kinder von berufstätigen Eltern. In Kindergärten muss aber gefördert und gelehrt werden. Aber irgendwann sind die Kinder doch durch ständiges Lernen überfordert. Struck:Kinder sind geborene Lerner. Sie wollen lernen, sie wollen etwas leisten, sie wollen anderen Menschen gefallen. Sie wären überfordert mit herkömmlicher Belehrung, wie sie in unseren Schulen läuft. Spielerisches Lernen überfordert sie überhaupt nicht. Zur Zeit sind sie eher unterfordert. Was läuft denn eigentlich schief im deutschen Bildungssystem? Struck: Vieles. Wir brauchen eine Ganztagsschule. Eine Halbtagsschule kann nie Lebensmittelpunkt der Kinder und Jugendlichen sein. Das ist aber wichtig, weil viele Eltern erzieherisch hilflos sind. Die Schule ist mittlerweile die einzige Lebenswelt, die die Kinder überhaupt noch erzieherisch erreichen kann. Ganztagsschule als Stein der Weisen? Struck: Die Ganztagsschule ist nur ein Element. Es muss auch eine andere Lehrerbildung geben. Die Schule wird zwar niemals Reparaturbetrieb in Sachen Erziehung sein können. Aber wir brauchen Lehrer, die in der Lage sind, den Eltern bei der Erziehung zu helfen. Dafür ist ein richtiges Klassenlehrer-Studium notwendig. Es wird nicht mehr funktionieren, dass wir nur Fachlehrer haben. Schule muss einen stärkeren erzieherischen Beitrag leisten, weil immer mehr Familien die Erziehung nicht mehr hinbekommen. Damit stellen Sie auch unser dreigliedriges Schulsystem in Frage. Struck: Dieses System gibt es auch nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Kinder werden damit viel zu früh, nämlich nach der vierten Klasse, nach den drei Schulformen sortiert. Alle erfolgreichen Pisa-Länder haben flächendeckend Gesamtschulen und mindestens neunjährige Grundschulen. Wenn die Ausbildungsleiter großer Betriebe feststellen, dass den Bewerbern Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Team- und Konfliktfähigkeit, Handlungskompetenz und Kreativität fehlen, wird klar, dass Kinder etwas anderes lernen müssen als den Namen der Hauptstadt von Burkina Faso. Unser dreigliedriges System ist ein Konstruktionsfehler. Wir brauchen viele andersartige Bildungsgänge nebeneinander. Also zurück zu den Volksschulen? Struck: Ja. Die sind außerordentlich leistungsfähig, wie man in Schweden sieht. Wie zuversichtlich sind Sie denn, dass sich im deutschen Bildungssystem Grundlegendes ändern wird? Struck: Es geht uns offenbar noch nicht schlecht genug. Ich vermute, es wird sich vorerst nichts ändern. Nach den ganzen Leistungstests stellen wir doch fest, dass sich eigentlich gar nichts getan hat. Die Bildungsdebatte ist ja fast schon wieder versandet. Wir sind einfach zu reformunfähig. S Mit Peter Struck sprach unser Redakteur Bernd Wientjes.

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