Kopf an Kopf

BERLIN. Wenn es ans Eingemachte geht, ist sich jeder selbst der Nächste. Rote und Grüne, die ihr "historisches Reformbündnis" gerne weiterführen würden, kämpfen plötzlich gegeneinander. Auch die anderen Parteien kennen keine Freunde mehr.

Es geht um viel an diesem 18. September, wenn 61,9 Millionen Bundesbürger aufgerufen sind, den 16. Deutschen Bundestag zu wählen. Es geht, wieder mal, um eine "Richtungswahl": Rechts oder links, hart oder weich, mehr oder weniger "soziale Gerechtigkeit". Und es geht um ein Novum der deutschen Politikgeschichte: Um die Frage, ob erstmals eine Kanzlerin das Land führt.Es war ein kurzer, knackiger Wahlkampf, der mit einer ebenso einsamen wie spektakulären Entscheidung am 22. Mai eingeleitet wurde. Rot-Grün hatte gerade in Nordrhein-Westfalen ihre letzte Bastion in den Ländern verloren und näherte sich dem politischen Koma. Deshalb versuchten Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering, zur Freude der Opposition und zum Entsetzen der Grünen, mit der Ankündigung von Neuwahlen (genauer: mit der Vertrauensfrage des Kanzlers) einen Befreiungsschlag zu landen.

Patt im Parlament möglich

Der Plan geriet, so wie es ausschaut, zum Schuss in den Ofen. Glaubt man Demoskopen, hat die rot-grüne Koalition keine Chance mehr, weiterzuregieren.

Es ist eine Situation, die sich keine der Parteien wünscht, denn es droht ein Patt im Parlament. Dies würde zwangsläufig zu einer großen Koalition führen, eine Vorstellung, die den Politikern nicht schmeckt - den Bürgern dafür umso mehr. Eine relative Mehrheit der Deutschen befürwortet jedenfalls ein Bündnis der beiden Großen, weil sie des Gewürges der vergangenen Jahre überdrüssig sind. Dass Union und SPD wie Hund und Katze zueinander passen, scheint die Wähler wenig zu stören.

Tatsächlich sind große Koalitionen besser als ihr Ruf: Dies zeigte das bislang einzige Bündnis im Bund (1966-1969), dies zeigen gegenwärtig die Not-Gemeinschaften in Brandenburg und Bremen. Ungeachtet jeglicher Koalitions-Arithmetik scheint jedoch ziemlich sicher, dass der nächste Regierungschef in Deutschland weiblichen Geschlechts sein wird. Die 51-jährige Pastorentochter Angela Merkel, geborene Kasner, hat beste Chancen, ihre Karriere mit dem politischen Top-Job krönen zu können. Noch mit 35 Jahren saß sie in Berlin-Adlershof, um der DDR als Physikerin zu dienen. Nun schickt sie sich an, eine der größten Volkswirtschaften der Erde zu managen und in den Männerklub der G8 aufgenommen zu werden.

Als die CDU-Vorsitzende am 30. Mai zur Kanzlerkandidatin der Union nominiert worden war, begann übrigens die Achterbahnfahrt der Gefühle in Reihen des bürgerlichen Lagers. Die SPD war damals so weit abgeschmiert in Wählers Gunst, dass kaum noch jemand am schwarz-gelben Wahlsieg zweifelte. Drei unvorhergesehene Ereignisse brachten dann alles durcheinander: Durch Schröders Neuwahl-Coup wuchsen die Linksparteien PDS (im Osten) und WASG (im Westen) rasant zusammen - und gewannen durch den Übertritt des Ex-SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine eine Aufmerksamkeit, die der neuen Partei traumhafte Prognosen bescherte.

Dann leisteten sich die Unionspolitiker Jörg Schönbohm und Edmund Stoiber mit abschätzigen Bemerkungen gen Osten böse Patzer, die Merkels Mannschaft ins Schleudern brachten. Schließlich beging die Kandidatin selbst einen schweren Fehler: Sie berief den renommierten Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof in ihr "Kompetenzteam". Der stand für sein eigenes radikales Steuersystem, das vom Unionsmodell deutlich abwich.

Feindbilder und Himmelsgeschenke

Für die SPD ein Himmelsgeschenk: Fortan hatten die Genossen ein Thema mit Beißcharakter. Profi Schröder zimmerte sich "den Professor aus Heidelberg" zum Feindbild zurecht. Die Umfragewerte stiegen wieder, und der Union flatterten die Nerven. Endgültig eng wurde es nach dem grell inszenierten Fernseh-Duell zwischen Schröder und Merkel Anfang September. Dabei machte die Herausforderin zwar eine gute Figur, dennoch war die Mehrheit der Bürger von der Souveränität des Kanzlers mehr beeindruckt.

Als dann auch noch einige Ministerpräsidenten der Union nach dem abseits schmollenden CDU-Finanzexperten Friedrich Merz riefen, komplettierten sie die Verwirrung. Dies rief die konservative Presse, insbesondere "Bild", auf den Plan. Mit der Aktion "Giftliste" versuchte die Boulevard-Gazette tagelang, die Stimmung zu kippen, indem sie Ängste schürte vor "drastischen Sozialeinschnitten", die Bundesfinanzminister Hans Eichel angeblich plane. Am Ende war die Atmosphäre so vergiftet, dass sich die Wahlkämpfer gegenseitig als "Lügner, Betrüger und Verleumder" beschimpften. Obwohl die Parteien noch einen Schluss-Spurt-Wahlkampf ankündigten, sind die Schlammschlachten geschlagen. Da die Lager nahezu gleich stark sind, könnte das Kopf-an-Kopf-Rennen im Patt münden. Dies wäre zugleich das politische Ende von Gerhard Schröder, womöglich auch von Joschka Fischer und FDP-Chef Guido Westerwelle. Und es wäre der Beginn einer neuen Ära - die weiblich geprägt ist und Angela Merkel heißt.

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