"Krieg aus Versehen” am 38. Breitengrad

TRIER. Nordkorea gibt offen zu, Atomwaffen zu produzieren. Droht ein nuklearer Konflikt auf der koreanischen Halbinsel? Darüber sprach der TV mit dem Nordkorea-Experten Professor Hanns W. Maull.

Muss Nordkorea nach der Aufrüstungs-Ankündigung damit rechnen, dass George W. Bush seine Prioritäten auf der "Achse des Bösen” neu ordnet? Maull: Die offizielle Linie der amerikanischen Politik ist ganz eindeutig: Militärische Optionen sind zwar nicht ganz ausgeschlossen worden, doch sie sollen wenn irgend möglich vermieden werden.Aber jetzt spekulieren die Falken in der Bush-Administration offen über Präventivschläge gegen Atomanlagen. Maull: Ich fürchte schon, dass eine Gruppe von Hardlinern in Washington, bestärkt durch die Erfahrungen im Irak, der Auffassung ist, dass die USA militärische Möglichkeiten haben, auch in Nordkorea das verhasste Regime auszuwechseln. Ich halte das für illusionär und sehr gefährlich. Ich glaube auch nicht, dass sich diese Richtung durchsetzen wird.Warum war denn der Ton der USA gegenüber Nordkorea, verglichen mit Irak und Iran, bisher so moderat? Maull: Die Situation auf der koreanischen Halbinsel ist viel riskanter. Die südkoreanische Hauptstadt liegt nur 40 Kilometer von der Demarkationslinie entfernt, also in Reichweite der nordkoreanischen Artillerie. Auch ohne Massenvernichtungswaffen würde ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel wahrscheinlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Toten bringen. Das betrifft derzeit auch noch die dort stationierten US-Soldaten. Die Administration Clinton hat 1993 die Erstschlagsoption erwogen, doch sie dann fallen lassen. Ganz abgesehen davon, dass ein Angriff auf Nordkorea ein Affront gegen den südkoreanischen Verbündeten wäre, denn Südkorea müsste ja den Preis bezahlen.Nordkorea hat 1,1 Millionen Mann unter Waffen, Südkorea und die USA rüsten weiter auf, und es gibt keinen Friedensvertrag. Das klingt nach einem Pulverfass... Maull: Die koreanische Halbinsel ist die am höchsten gerüstete Region der Welt mit einer sehr hohen Truppenkonzentration auf engem Raum und wenig Kommunikationsdrähten zwischen beiden Seiten. Das ist vielleicht das größte Sicherheitsrisiko. Es ist einfach nicht auszuschließen, dass es zu einem Krieg aus Versehen kommt, obwohl ihn weder der Norden noch der Süden noch Amerika wünschen.Können China, Russland und Japan angesichts der großen Reichweite nordkoreanischer Raketen noch ruhig schlafen? Maull: Japan fühlt sich durch Nordkoreas atomare, biologische und chemische Waffen unmittelbar bedroht und forciert den Aufbau eines Raketenabwehrsystems. China hat Sorge, dass Flüchtlingswellen dadurch ausgelöst werden könnten, dass Nordkorea instabil und wirtschaftlich total am Ende ist und dass es kollabieren könnte.Stichwort Kollaps - Sie haben in einer Veröffentlichung Nordkorea als "Zombie-Staat” bezeichnet. Wie kamen Sie darauf? Maull: Unter einem "Zombie-Staat” verstehe ich einen Staat, der eigentlich nicht mehr lebensfähig ist. Nordkorea hat gewissermaßen seine Wirtschaft kannibalisiert für die Ziele der militärischen Rüstung und Sicherheit des Regimes. Die Wirtschaft ist völlig am Ende, und etwa sechs Millionen Menschen in Nordkorea sind in diesem Jahr wieder von Hunger bedroht.Wie lange geben Sie Nordkorea noch? Maull: Wir wissen nicht, wie lange ein solcher Staat dadurch überleben kann, dass er die eigene Bevölkerung brutal ausbeutet und unterdrückt und die Nachbarn erpresst. Das kann noch Jahre dauern. Aber ich wäre doch sehr überrascht, wenn der Staat Nordkorea mit diesem Regime in zehn Jahren noch bestehen würde.Wie fest sitzt denn Kim Jong Il im Sattel? Hat er Rückhalt im Militär? Maull: Es spricht schon alles dafür. Kim Jong Il ist der Mann, der alles zu entscheiden scheint. Im Grunde funktioniert Nordkorea wie eine Sekte, die sich als Staat organisiert hat - mit einer ganz eigenartig religiös verbrämten Ideologie, die Kim Il Sung gewissermaßen als Gottvater und Kim Jong Il als den Sohn verehrt.Was treibt Kim Jong Il zur ständigen Provokation? Will er Wirtschaftshilfe erpressen, spielt er nuklearen Machtpoker oder ist er schlicht größenwahnsinnig? Maull: Größenwahnsinnig würde ich ausschließen. Das ist eine durchaus rationale, wenn auch brutale Strategie. Es geht diesem Mann ums Überleben seines Regimes. Dazu gehört, dass er seine Waffen als Erpressungsmittel benutzt. Nordkorea strebt erneut ein Rahmenabkommen an, um für den Abbau des Atomprogramms und seiner Rüstung Wirtschaftshilfe und Existenzgarantien für das Regime zu erhalten.Wie realistisch ist dieser Plan? Maull: Nordkorea ist nicht bereit, seine Trümpfe aus der Hand zu geben. Es besteht also immer die Gefahr, dass es Vereinbarungen bricht. Andererseits können die USA das Regime nicht wirklich anerkennen. Denn es wäre der nordkoreanischen Bevölkerung dringend zu wünschen, dass es zusammenbricht.Einige Zeit sah es nach Tauwetter am 38. Breitengrad aus, jetzt droht wieder eine Eiszeit. Gibt es überhaupt noch eine Aussicht auf Wiedervereinigung? Maull: Ich halte die Wiedervereinigung sogar für die mit Abstand wahrscheinlichste Entwicklung über die nächsten 15 Jahre. Die Frage ist nur: Wie wird sich das vollziehen? Friedlich, gewaltsam oder durch chaotischen Zusammenbruch des Regimes im Norden?S Das Gespräch führte TV-Redakteur Joachim Engbrocks.

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