Kühl kalkulierte Reformverweigerung

Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Sommer festgestellt, dass der jetzige Bundestag verfassungswidrig zusammengesetzt ist. Die Richter verwarfen die Idee seiner sofortigen Auflösung zwar als unverhältnismäßig, forderten aber eine Reform des Wahlrechts bis Mitte 2011. Nun war es für die Parteien eine Frage des Willens und des Kalküls, ob sie auch den neuen Bundestag, der am 27. September gewählt wird, noch einmal rechtswidrig bestimmen lassen.

Berlin. Union und FDP haben sich klar auf die Seite des Kalküls geschlagen. Sie werden diesmal voraussichtlich am meisten vom System der sogenannten Überhangmandate profitieren, das die Ursache des Übels ist. Diese entstehen, wenn eine Partei über die Direktwahl der Kandidaten (Erststimme) in einem Land im Verhältnis zu ihrem Zweitstimmenanteil überproportional viele Abgeordnete nach Berlin entsendet.

Union kann mit bis zu 24 Mandaten zusätzlich rechnen



Die Union kann nach Berechnungen des Friedrichshafener Politologen Joachim Behnke mit bis zu 24 Überhangmandaten rechnen, die SPD hingegen nur mit drei.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es für eine schwarz-gelbe Mehrheit der Sitze reicht, steigt laut Behnke dadurch auf 90 Prozent.

Obwohl es in der Union von Beginn an mahnende Stimmen gab, ein sauber legitimiertes Parlament sei wichtiger als kurzfristiges Machtkalkül, hat Angela Merkel alle Reform-Versuche abblitzen lassen. Auch vergangene Woche, als SPD-Chef Franz Müntefering ihr einen Brandbrief schickte: "Es wäre ein schwerer Mangel, auch ein Makel für das Verfassungsverständnis der Großen Koalition, wenn wir ungerührt mit diesem verfassungswidrigen Wahlrecht in die Bundestagswahl 2009 gingen", schrieb Müntefering.

Kanzlerin: Reform ist zu kompliziert



Merkel antwortete, das Gericht habe ausdrücklich eine längere Frist gestattet. Außerdem müsse das komplizierte Regelwerk auf eine klare und verständliche Grundlage gestellt werden. Mit dem Argument, die Reform sei zu kompliziert, um sie noch zu schaffen, hat die Union seit dem Richterspruch vom 3. Juli 2008 operiert - und so ein Jahr verstreichen lassen. Jetzt ist es (fast) zu spät.

Dass die sonst so auf Bürgerrechte pochende FDP, die als kleine Partei nie von Überhangmandaten profitiert, dazu schweigt, erklärt sich wohl ebenfalls mit der Aussicht auf eine schwarz-gelbe Mehrheit. im Parlament.

Die SPD ist auch nicht unbedingt glaubwürdig. Als sie mit den Grünen und dank eigener Überhangmandate regierte, hat sie jedenfalls nie irgendeinen Anlauf zur Reform des Wahlrechts unternommen. Jetzt haben die Genossen es eilig - aus den umgekehrten Gründen wie Union und FDP. Gleichwohl haben sie moralisch das Recht auf ihrer Seite.

Dennoch wird die SPD am Freitag im Bundestag einen Antrag der Grünen ablehnen, die - wie sie - die Überhangmandate des einen Landesverbandes einer Partei mit Listenplätzen aus anderen Landesverbänden verrechnen wollen. Es wäre ein offener Koalitionsbruch kurz vor der Wahl, wenn die Sozialdemokraten einem solchen Antrag zusammen mit den Linken gegen den Willen der Union zur Mehrheit verhülfen. Zudem würden Union und FDP dann von einem Signal für eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit sprechen.

Waghalsige Manöver waren im Gespräch



Kurzzeitig war ein solch waghalsiges Manöver in der SPD erwogen worden, jedoch verwarf man die Idee gestern im Parteipräsidium schnell wieder. Der Schaden wäre größer als der Nutzen. So wird der letzte Akt der Koalitionstreue in dieser Legislaturperiode am Freitag für die SPD einen verdammt bitteren Beigeschmack haben.

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