Kuschelkurs und harte Gangart

BERLIN. Im Wahl-Endspurt wird über den geplanten EU-Beitritt der Türkei heftig gestritten. Entscheiden am Ende diese Frage und das Abstimmungsverhalten der Türken mit deutschem Pass mit über den Wahlausgang?

Noch vor Wochen hatte Wolfgang Schäuble, in Angela Merkels Kompetenz-Team für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig, gewarnt, die EU-Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zum Streitthema im Wahlkampf zu machen. Die Kanzlerkandidatin, die auf den letzten Metern buchstäblich um jede Prozentstelle hinter dem Komma zu kämpfen scheint, sieht das inzwischen völlig anders. Sie hat eine harte Gangart verordnet: Nach einer Sitzung ihres Wahlkampfteams im Konrad-Adenauer-Haus preschte sie mit den Sätzen vor: "Wenn wir die politische Mehrheit bekommen, wird das starke Auswirkungen auf die gesamte Verhandlungsführung haben, die in Europa mit der Türkei durchgesetzt wird." Konkret: Partnerschaft ja, aber klares Nein zur türkischen EU-Vollmitgliedschaft.Es geht auf der Zielgeraden dieses Wahlkampfes um letzte Wählermobilisierungen. Am Dienstag hatte der Bundeskanzler die türkischen Zeitung "Hürriyet" in Walldorf bei Frankfurt besucht. Der einflussreiche Verleger dieser größten türkischen Zeitung hatte Schröder überschwänglich mit den Worten begrüßt: ,,Herr Bundeskanzler, die türkischstämmigen Deutschen haben Sie in ihr Herz geschlossen." All das stand so am nächsten Tag auch in "Hürriyet". Zwar sagt der Sprecher des Kanzlers gestern gegenüber unserer Zeitung, der Besuch sein schon geplant gewesen, lange bevor der Neuwahltermin 18. September feststand. Die Zeitung "Hürriyet" erscheine 40 Jahre in Deutschland und habe dieses Jubiläum entsprechend feiern wollen. Gleichwohl fällt die große zeitliche Nähe zum Wahltermin auf.

In Deutschland leben rund 840 000 eingebürgerte Türken. Etwa 560 000 sind wahlberechtigt. Laut Umfrage wollen am Sonntag fast 80 Prozent die SPD wählen, 4,8 Prozent die Union. Die Grünen schaffen demnach 9,3, die FDP 1,2 Prozent.

560 000 türkischen Stimmen kommt große Bedeutung zu

Schon bei der Wahl 2002 entschieden sich die meisten wahlberechtigten Türken für die SPD. 470 000 durften damals wählen. Bei dem vorhergesagten knappen Wahlausgang kommt den türkischen Stimmen also große Bedeutung zu.

Rot-Grün ist bekanntlich für eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, was die in Deutschland lebenden Türken sehr begrüßen. Schröder hatte in dieser Woche auf mehreren Wahlveranstaltungen das Beitrittsziel noch einmal verteidigt: "Die Türkei hat die Aufnahmebedingungen für einen EU-Beitritt erfüllt. Und das sage ich nicht nur im Namen der Deutschen, sondern aller Regierungen in Europa."

Während Hessens Ministerpräsident Roland Koch gestern dem Kanzler Missbrauch der Deutsch-Türken im Wahlkampf vorwarf und Außenminister Joschka Fischer davor warnte, der Türkei die Tür vor der Nase zuzuschlagen, gaben Wahlstrategen in der CDU-Zentrale hinter vorgehaltener Hand zu: "Wir haben bei den Türken in Deutschland sowieso nichts zu gewinnen. Deshalb mobilisieren wir mit dem lauten Nein zum Türkei-Beitritt lieber das eigene Lager."

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