Labsal in Stuttgart

Rituale haben Vorteile: Sie sind einprägsam und besitzen einen hohen Wiedererkennungswert. Sie haben auch Nachteile: Rituale sind langweilig und wecken nur selten Interesse. Das Stuttgarter Dreikönigstreffen der FDP ist so ein Ritual.

Es lebt von der Tradition - und den immergleichen Titeln, Thesen und Temperamenten der Liberalen. Wer die Nachfolger der blaugelben Heroen Heuss, Flach und Genscher ernst nimmt, muss sich gleichwohl auch diesem Treffen widmen. Es dient der alljährlichen Wiederaufarbeitung innerlich abgebrannter Liberaler, eine Art Jungbrunnen für verletzte und erschöpfte Seelen. Das war diesmal besonders wichtig, hat die FDP doch ein schlimmes Jahr hinter sich: bescheidene Wahlergebnisse trotz günstiger Konstellation, deprimierende Umfragewerte im Bund, interne Unwetter und Zänkereien und der spektakuläre Tod des tragischen Helden Jürgen Möllemann. Parteichef Guido Westerwelle, der in 2003 mehrfach auf der Kippe stand, hat sich wieder gefangen. In Stuttgart trat er betont lässig auf, vielleicht eine Spur zu altklug. Was er sagte, hat er schon hundertmal gesagt, aber das gilt auch für die Konkurrenz aus den anderen Parteien. Politik ist ja nach Max Weber mit dem Bohren dicker Bretter vergleichbar, und diese Praxis erfordert eben viel Geduld und immer wieder neue Versuche. Westerwelle ist so ein Sysiphos, er gibt sich jedenfalls so - aber ob es ihm was hilft? Braucht er nicht auch ein bisschen Glück, so wie es Scheel und Genscher im Übermaß hatten? Oder benötigt er doch eher ein erweitertes Bewusstsein, das nicht nur (wie jetzt wieder in Stuttgart) der Philosophie der Erfolgreichen huldigt, sondern auch das Gewissen sozialer schärft? Die FDP lebt derzeit in einem Paradoxon: Ihre (alten) Thesen gelten als so modern, dass sie von den anderen Parteien abgekupfert werden, doch die FDP selbst kann nicht davon profitieren. Tatsächlich ist sie auch widersprüchlich und ähnelt dabei den Rivalinnen von den anderen Fraktionen. Stets predigt sie die gleiche Litanei, lobpreist die Marktwirtschaft und sieht bloß die Splitter in den Augen der Sozialschmarotzer. Die Balken bei den Abzockern mit weißem Kragen sieht sie weniger. Der Parteichef scheut sich auch nicht, für seine Sicht der Politik den Aufklärer Immanuel Kant in Anspruch zu nehmen. Auch diesbezüglich unterscheidet sich die FDP 2004 nur unwesentlich von der FDP des Jahres 1982, als die Liberalen die "Wende" einleiteten und weitere 16 Jahre lang mit der Union für die Zahlen, Strukturen und Subventionen verantwortlich waren, die man jetzt bitter beklagt. Wenn die Liberalen Pech haben, schmieren sie in diesem Superwahljahr (noch) weiter ab. Die Daten verheißen nichts Gutes, und die Wahl des Bundespräsidenten im Mai könnte im blau-schwarzen Fiasko enden, sollten Westerwelle und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel nicht bald eine Persönlichkeit präsentieren können, die als Kandidat/in überzeugt und mehrheitsfähig ist. Wie im Sport liegen auch in der Politik Sieg und Niederlage dicht beieinander. Packt Westerwelle die Hürden, ist er der King. Scheitert er, trifft man sich auch am Dreikönigstag 2005 in Stuttgart, um Labsal zu suchen. nachrichten.red@volksfreund.de

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