Lasst die Schubladen zu!

"Die Demokratie ist keine besonders gute Staatsform. Aber die beste, die ich kenne." Winston Churchills berühmtes Zitat ist auch fast 40 Jahre nach dem Tod des britischen Staatsmanns uneingeschränkt gültig.

Doch diese Tatsache scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Wie anders lässt sich erklären, dass immer weniger Bürger zur Wahl gehen und damit die Herrschaft des Volkes, wie Demokratie übersetzt heißt, ihrer Grundlage berauben? Vor zwei Wochen schockte die historisch niedrige Mobilisierung bei der Europawahl Politiker und Beobachter, jetzt ist es die geringe Beteiligung an vielen Stichwahlen im Land. Was spricht vor diesem Hintergrund gegen den Vorstoß des Mainzer Innenministers Walter Zuber, von Nachbarländern wie Luxemburg und Belgien zu lernen und über eine Wahlpflicht nachzudenken? Dass Bürger in einer Demokratie nicht zur Stimmabgabe gezwungen werden sollten, wenn ihnen keine Partei wählbar erscheint? Die Belgier machen vor, wie beides zusammenpasst: Sie müssen zur Wahl gehen, können sich aber der Stimme enthalten. Schwieriger wird es bei dem Gegenargument, Zwang sei das falsche Mittel, um Politik-Verweigerer in interessierte und engagierte Bürger zu verwandeln. Zweifellos wäre es eleganter, die Wahlberechtigten durch politische Bildung zu bewegen, ihre Kreuzchen zu machen. Doch in dieser Hinsicht wurde in den vergangenen Jahren viel getan - und die Wahlbeteiligung ist dennoch gesunken. Was bleibt, wenn ein existenziell wichtiges Verhalten wie die Stimmabgabe nicht mit Überzeugungsarbeit erreicht werden kann? Genau: es zu erzwingen. Steuern zahlt schließlich auch niemand gerne. Hinzu kommt, dass eine Wahlpflicht durchaus positive Nebenwirkungen haben könnte: So mancher dürfte den Zeitungsbericht über die Bundestagsdebatte oder das Polit-Magazin im Fernsehen nicht mehr leichtfertig ignorieren, wenn er wüsste, dass er regelmäßig Wahlentscheidungen treffen muss. Vielleicht erhielte Politik in unserer Gesellschaft zumindest annähernd den hohen Stellenwert, den sie verdient. Vielleicht entstünde ein neues Bewusstsein dafür, dass Bürger nicht nur Rechte haben, sondern auch Pflichten. Dafür, wie wichtig das Wählen ist. Und dafür, dass es auf jeden einzelnen ankommt. Liebe Politiker, lasst die Schubladen für abgelehnte Vorschläge diesmal zu! Die Zuber-Idee verdient es, diskutiert zu werden - schließlich geht es um die Zukunft der besten Staatsform, die wir kennen. i.kreutz@volksfreund.de

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