Justiz Massenmord aus Langeweile?

Oldenburg · Im Krankenhaus sterben täglich Menschen – dass jemand dabei nachhilft, damit rechnet niemand. Der Pfleger Niels H. tat dies möglicherweise in weit mehr Fällen als bisher bekannt. Demnächst wird er deshalb erneut vor Gericht stehen.

 Nils H. 2014 vor Gericht. Damals wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, jetzt ist erneut angeklagt.

Nils H. 2014 vor Gericht. Damals wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, jetzt ist erneut angeklagt.

Foto: dpa/Carmen Jaspersen

(dpa) Wegen Mordes an 97 Patienten soll sich der verurteilte Ex-Krankenpfleger Niels H. erneut vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft erhob jetzt Anklage gegen den heute 41-Jährigen. Sie wirft ihm vor, aus Langeweile und Geltungsdrang 62 Patienten am Klinikum Delmenhorst und 35 am Klinikum Oldenburg umgebracht zu haben.

„Er ist weitgehend geständig“, sagte Oberstaatsanwalt Martin Koziolek am Montag. Wegen sechs Taten sitzt Niels H. bereits lebenslang in Haft. Auf das Landgericht Oldenburg kommt jetzt ein aufwendiger Prozess um die möglicherweise größte Mordserie in der deutschen Kriminalgeschichte zu.

Der frühere Pfleger soll schwerkranken Patienten eigenmächtig verschiedene Medikamente gespritzt haben, die unter anderem lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auslösten. „Dies tat er, um seine Fähigkeiten im Bereich der Reanimation gegenüber Kollegen und Vorgesetzten präsentieren zu können und um seine Langeweile zu bekämpfen“, sagte Koziolek. Dabei habe er den Tod der Patienten billigend in Kauf genommen.

Die Anklage ist das Ergebnis jahrelanger Ermittlungen. Hunderte Patientenakten hatten die Fahnder ausgewertet und mehr als 100 Leichen ausgraben lassen, um sie auf Rückstände von Medikamenten zu untersuchen. Im November gingen die Ermittler dann mit einer grauenhaften Zahl an die Öffentlichkeit: 100 weitere Menschen soll Niels H. auf dem Gewissen haben – neben denjenigen, wegen deren Tod er bereits verurteilt wurde. In drei Fällen konnten die Experten allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob die gefundenen Medikamente nicht von Ärzten verordnet waren, deshalb fehlen diese in der Anklage.

Das Landgericht Oldenburg muss nun entscheiden, ob es zu einem neuen Prozess gegen den Ex-Pfleger kommt. Wie lange das dauert, konnte Gerichtssprecher Michael Herrmann am Montag noch nicht abschätzen. „Die Akten sind heute Morgen bei uns eingegangen.“ Diese umfassten zehn Umzugskartons. Angesichts der vielen Opfer könnte das Verfahren zur logistischen Herausforderung werden. Die voraussichtlich hohe Zahl von Nebenklägern und deren Vertretern würde die Kapazitäten das Landgerichts sprengen. Deshalb müsste das Gericht vermutlich auf eine Alternative in der Stadt ausweichen.

Die Delmenhorster Anwältin Gaby Lübben, die nach eigenen Angaben etwa 100 Angehörige vertritt, zeigte sich zufrieden. „Es geht jetzt voran. Wir haben bisher in einer Warteschleife gehangen.“ Der Prozess sei wichtig für ihre Mandanten, um mit den Taten umzugehen und diese zu verarbeiten.

Das Ausmaß der mutmaßlichen Mordserie war erst nach und nach ans Licht gekommen. Eine Krankenschwester hatte Niels H. im Sommer 2005 auf der Delmenhorster Intensivstation auf frischer Tat ertappt. Dafür stand er in einem ersten Prozess vor Gericht. Schon damals gab es Hinweise, dass er möglicherweise noch mehr Patienten tötete.

Doch erst als Angehörige nicht locker ließen, kam es zu einem zweiten Prozess, in dem er sich wegen fünf Taten verantworten musste. In diesem Verfahren zeigte sich schnell, dass die Zahl der Opfer wahrscheinlich deutlich höher ist. Eine Sonderkommission der Polizei rollte den Fall neu auf.

Auch Klinikmitarbeiter gerieten ins Visier der Ermittler. Auf den Intensivstationen in Oldenburg und später Delmenhorst gab es nach Angaben der Ermittler konkrete Hinweise auf die Verbrechen. Doch lange geschah nichts. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb sechs Delmenhorster Mitarbeiter wegen Tötung durch Unterlassen angeklagt. In drei Fällen hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Jetzt muss das Oberlandesgericht entscheiden. Gegen Oldenburger Mitarbeiter laufen die Ermittlungen noch.

(dpa)
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