Mehr als nur ein kleines Weindorf - Im luxemburgischen Schengen ist vor 30 Jahren Geschichte geschrieben worden

Schengen · 30 Jahre Schengen-Abkommen: Zu diesem Anlass kamen am Samstag unter anderem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in den gleichnamigen luxemburgischen Moselort, um zu feiern und zu warnen.

"Ausgerechnet hier soll europäische Geschichte geschrieben worden sein?" Unwillkürlich schießt einem dieser Gedanke durch den Kopf, wenn man durch Schengen geht. Besonders ansehnlich sind die Häuser in der Wäistrooss, der Weinstraße - der Hauptdurchgangsstraße - in dem 500-Einwohner-Dorf an der Luxemburger Mosel nicht. Ergraute Fassaden. Einige Häuser stehen zum Verkauf. Es gibt ein chinesisches Restaurant, weiter runter ein Lebensmittelgeschäft, daneben ein Café. Vier Männer sitzen an diesem noch regnerischen Samstagnachmittag davor, trinken Kaffee oder Bier. In Sichtweite der Brücke, die über die Grenze führt.

Links hinter der Brücke geht es nach Deutschland, nach Perl. Rechts nach Frankreich, Apach. Die Straße, die unter der Brücke entlang der Mosel führt, heißt Rue Robert Goebbels. Robert Goebbels, dem früheren Luxemburger Außenstaatssekretär ist es zu verdanken, dass das verträumte Weindorf seit 1985 der Inbegriff für ein offenes Europa, ein grenzenloses Europa ist. Auf seine Initiative hin ist damals am 14. Juni hier auf einem Ausflugsschiff auf der Mosel das Schengener Abkommen unterzeichnet worden. Zunächst nur zwischen Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Das sei damals eigentlich keine große Sache gewesen, erinnert sich Goebbels 30 Jahre danach. Nur eine Handvoll Journalisten sei dabei gewesen und die sei dann noch vor der Unterzeichnung vom Schiff bugsiert worden.

Alle fünf Jahre wird dieser Tag groß gefeiert in Schengen. Mit politischer Prominenz. Wie am vergangenen Samstag. Goebbels ist auch dabei. In der ersten Reihe. Doch die Mikrofone und Kameras sind heute nicht auf einen der Väter des Schengener Abkommens gerichtet, sondern auf den EU-Kommissions-Präsidenten und früheren Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker sowie auf EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Sie sind zusammen mit dem jetzigen Premierminister Luxemburgs, Xavier Bettel, und der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer in die Rue Robert Goebbels gekommen, um hier vor dem Europa-Museum und neben zwei Originalteilen der Berliner Mauer am Moselufer "Schengen" zu verteidigen. Ranghohe Vertreter von Rheinland-Pfalz sind unter den 200 geladenen Gästen nicht zu sehen.

"Man muss sich allen in den Weg stellen, die Schengen wieder abschaffen wollen", sagt Juncker auf Luxemburgisch an die Politiker gerichtet, die die Wiedereinführung von Grenzkontrollen fordern. In Deutschland kommen die Stimmen vor allem aus Bayern. Gestern erst hat der bayerische Finanzminister Markus Söder eine "Auszeit" für das Schengen-Abkommen gefordert. Ohne Schengen gebe es kein Europa und keinen Euro, sagt Juncker. 26 Länder mit über 400 Millionen Einwohnern gehören heute zum Schengen-Raum. Einen Meilenstein für ein friedliches Europa nennt Schulz daher das vor 30 Jahren unterzeichnete Abkommen. "Die, die Grenzen wieder einführen wollen, wollen uns wieder trennen", sagt der Parlamentspräsident und warnt davor, die Diskussion über Flüchtlinge zu missbrauchen, um gegen offene Grenzen zu wettern. "Es muss auch Grenzen geben", sagt Schulz. "Grenzen für Feinde der Demokratie." Hass und Fremdenfeindlichkeit seien die Dämonen des 20. Jahrhunderts, die bekämpft werden müssten, so Schulz. "Es dürfte kein Problem für den reichsten Teil der Welt mit 500 Millionen EU-Bürgern sein, 500.000 Flüchtlinge aufzunehmen." Er spricht sich für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge aus. Es sei nicht fair, dass 50 Prozent der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, nur von vier Ländern aufgenommen würden.

Auch Premierminister Bettel warnt davor, die Errungenschaften von Schengen aufzugeben. Das sei mehr als nur offene Grenzen, das Abkommen stehe für Freiheit und Solidarität in Europa, sagt Bettel, der seine Rede in Luxemburgisch, Französisch und Englisch hält. Schengen sei eben mehr als nur ein kleiner Weinort, sagt Ortsbürgermeister Ben Homan sichtlich stolz.

Vier Fragen an Martin Schulz

Herr Schulz, angesichts anhaltender Flüchtlingsströme werden die Rufe nach Wiedereinführung von Grenzkontrollen immer lauter. Was halten Sie davon?

Martin Schulz: Wir haben mit dem Schengen-Abkommen die Innengrenzen abgeschafft und Außengrenzen geschaffen. Wir können das Flüchtlingsproblem nicht lösen, wenn wir wieder Grenzen in Europa einführen. Sondern durch ein legales Einwanderungssystem und eine andere Verteilung von Flüchtlingen, die nur zeitlich begrenzt hier bleiben wollen.Was sagen Sie denn den Menschen, die die Grenzen wieder einführen wollen?

Schulz: Es sind vor allem Politiker, die das fordern. Das ärgert mich, das ist Politiker-Geschwätz von Populisten.

Aber viele Menschen scheinen doch Angst vor unkontrollierter Einreise zu haben.

Schulz: Man kann auch im Schengen-Raum bereits jetzt Grenzen kontrollieren. Das geschieht auch durch die Polizei. Auch gibt es verdachtsunabhängige Kontrollen im Zuge der Gefahrenabwehr.
Es wird also trotz aller Forderungen keine geschlossenen Grenzen mehr in Schengen geben?

Schulz: Ganz sicher nicht.

wie

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