Mehr Chancen als Risiken

"Die Zeit" hat dieser Tage gefragt: Was wird mit der EU nach der Erweiterung: eine Union der Schwarzarbeiter und Schieber, der Schnorrer und Schmarotzer?Werner Langen: Das ist totaler Unsinn.

Die erweiterte EU ist nicht nur ein Friedensprojekt, eine Wiedervereinigung Europas, sie bietet auch wirtschaftliche Chancen, die die Risiken weit übertreffen.Ralf Walter: Das ist eine typisch deutsche Aussage. Es werden bei Veränderungen die negative Seiten gesehen, die Chancen aber ignoriert. Oscar Wilde hat mal gesagt: Wir kennen von allem den Preis, aber von nichts den Wert. So wird auch die EU-Erweiterung gesehen.Hiltrud Breyer: Wir sollten das als Gewinn sehen. Die Verlagerung von Unternehmen in den Osten wäre ohnehin gekommen. Man soll es nicht beschönigen, aber wir in der Saar-Lor-Lux-Region können als Leuchtturm vorangehen.Christoph Giesa: Natürlich gibt es Chancen. Aber die Leute sehen diese weniger, weil ihnen die Risiken präsenter sind. Wenn die deutsche Regierung den Stabilitätspakt nicht einhält und osteuropäische Länder mit dem Finger auf uns zeigen, nutzt das wenig.Wir haben über vier Millionen Arbeitslose, und viele haben Angst um ihren Job. Wie erklärt man denen wirtschaftliche Vorzüge der Osterweiterung?Langen: Die Industrie ist bereits dort. Die Investitionen im Osten wie in der Automobilindustrie sind längst getätigt. Wo sich Chancen ergeben, ist bei der Arbeitsteilung für mittelständische Unternehmen, die unter hohem Lohndruck in Deutschland leiden.Walter: Schaden die Luxemburger mit niedrigen Steuern der Trierer Region? Das kennen wir von früher. Wenn wir uns heute die Situation anschauen, hatte das unglaubliche Vorteile für uns. Wenn die neuen EU-Staaten unsere Kunden bleiben sollen - 45 Prozent der Exporte dorthin kommen aus Deutschland -, müssen die Menschen sich unsere Produkte leisten können.Breyer: Für viele Betriebe gilt: Dadurch, dass sie nach Osten auslagern, bleiben sie Deutschland erhalten. Die Politik und wir als Parlamentarier haben dafür zu sorgen, dass es eine Mindestharmonisierung der Steuern gibt oder ökologische und soziale Mindestkriterien eingehalten werden.Giesa: In arbeitsteiligen Wirtschaften wird es immer Abwanderung im Niedriglohnsektor geben. Der Effekt ist viel geringer als vielfach gedacht. Aber wir brauchen in Deutschland einen staatlich geförderten Niedriglohnsektor, um wettbewerbsfähig zu werden. Sie haben gerade politische Steuerung angesprochen. Wenn Sie die Leute überzeugen wollen, müssen Sie doch erklären, wie Sie das hinbekommen wollen.Walter: Wir kommen den neuen Mitgliedsstaaten in den nächsten Jahren weit entgegen. Beispiel Struktur- und Fördermittel: Die unterliegen jetzt schon zwei Regeln. Was gemacht wird, muss zusätzlich erfolgen, und sie müssen kofinanziert werden. Auch Betriebsverlagerungen können nicht finanziert werden. Worauf wir achten müssen, ist die Einhaltung der Regeln.Giesa: Nochmal zurückzukommen auf den Stabilitätspakt: Es geht darum, wie eine EU funktionieren kann. Das geht aber nicht, wenn jeder die Regeln nur dann einhält, wenn er es ohne weiteres machen kann. Deutschland war immer die Lokomotive in Europa, und nun ist es die nicht mehr.Langen: Wir haben eine zentrale Geldpolitik mit der Europäischen Zentralbank und eine dezentrale Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist die Klammer zwischen beiden. Wenn sie nicht greift, geht mittelfristig das Vertrauen verloren.Wie sieht es ab dem 1. Mai mit Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz aus? Gibt es vergleichbare Standards in den neuen Mitgliedsstaaten?Walter: Es gab enorme Hilfe beim Aufbau beispielsweise der Standards bei Kontroll-Systemen und Schlachthäusern.Breyer: Alle Lebensmittel, die den bisherigen EU-Standards nicht entsprechen, dürfen nicht in die EU importiert werden. Die Erweiterung hat erst Druck darauf erzeugt, die alte Agrarpolitik und die Strukturfonds zu überdenken. Ich glaube, dass ein europäischer Wirtschaftsstandort nur Erfolg hat, wenn er ein Verbraucher-Standort ist.Langen: Die Agrarreform ab 1. Januar 2005 fördert die Betriebe, nicht die Produkte, das ist ein Richtungswechsel. Das heißt aber nicht, dass wir auf Subventionen in der Landwirtschaft verzichten können. Im Gegenteil. Wenn wir eine bäuerliche Struktur erhalten wollen, dann brauchen die Bauern in der Eifel und im Hunsrück Hilfe. Mit der Erweiterung kommen neue "hungrige Mäuler" an die Fördertöpfe der EU - viele Regionen mit einer Wirtschaftsleistung von 30 Prozent des EU-Durchschnitts. Was heißt das für die Region Trier, gerät sie aufs Abstellgleis ?Walter: Diese Region ist modellhaft dafür, sich von einer Föderung langsam zu verabschieden. Das werden wir auch anderen Regionen sagen müssen, wo sich die Rahmenbedingungen verbessert haben. Es wird keinen Bruch geben, aber alle müssen damit leben, dass wir die Mittel konzentrieren müssen.Breyer: Es wird so getan, als wenn so viel Geld in die Beitrittsländer gehen würde. Tschechien bekommt 2004 pro Kopf 29 Euro von der EU, 2002 gab es für Griechenland 437 Euro pro Kopf. Da sollte kein falscher Eindruck entstehen.Europäische Verträge, Richtlinien und Verordnungen umfassen über 80 000 Seiten. Was kann man gegen den gewaltigen Apparat tun?Langen: Bürokratie hat zwei Ebenen. Die der Förderprogramme, der vielen Unterlagen und langen Fristen. Die andere ist die der Umsetzung von Richtlinien und Verordnungen. Aus 100 Prozent Bürokratie wird in Deutschland allerdings 150 Prozent.Breyer: Die EU-Verfassung würde klar die Zuständigkeiten definieren und nur das regeln, was auch geregelt weerden muss. Sei es die Größe von Äpfeln oder die Harmonisierung von Kaugummi-Automaten, an vielen Punkten sind die Dinge überreguliert.Giesa: Es geht um die Entfernung der Bürger von der europäischen Politik. Sie handeln auf europäischer Ebene nicht so, dass die Bürger das Gefühl haben, Sie wollen mit ihnen kommunizieren. Walter: Wir haben auf europäischer Verwaltungsebene erheblich weniger Personal als auf nationaler Ebene. 35 000 Mitarbeiter arbeiten bei allen europäischen Verwaltungen, eine Stadt wie Frankfurt kommt damit bei weitem nicht hin. Aber europäische Regeln sind nur Mindeststandards. National dürfen diese erweitert werden. Wir sind immer im Spannungsfeld, verantwortlich mit dem Geld umzugehen und praktikabel zu arbeiten. Dieses Spannungsfeld können wir nicht ausschließen.Die Debatte über Skandale bei der EU hinterlässt den Eindruck, es gibt einen Selbstbedienungsladen. Gibt es keine hinreichende Kontrolle?Langen: Wir haben unterschiedliche Diäten, die sich nach nationalen Diäten richten. Die Spanne reicht von 3000 bis 11 000 Euro im Monat. Das Parlament hat selbst ein Statut nach dreijährigem Streit im Juni 2003 beschlossen. Doch der Ministerrat hat das verhindert.Breyer: Wir haben unterschiedliche Lebenshaltungskosten in Europa. Da kann man nicht sagen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ich hätte mir gewünscht, dass es eine Regelung am EU-Durchschnitt gibt.Das finden die Leute sehr kompliziert. Wenn bisher in der EU alles regelbar war bis zur Größe des Apfels, warum nicht auch ein Statut ?Walter: Egal, welches Salär man einem Abgeordneten gibt, es wird in den Augen vieler immer zu hoch sein. Wir müssen klären, was ist ordentliche Arbeit eines Abgeordneten, und was ist sie uns wert. Im Moment sind wir nach einer Regelung besoldet, die vor 25 Jahren beschlossen worden ist.Giesa: Eine Grundlage von Politik ist doch aber: Wenn man Politik erfolgreich betreiben will, dann muss man so agieren, dass man nicht angreifbar wird. Es muss transparent sein.Wagen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft: Wie sieht Ihre Vision für die EU in zehn Jahren aus, wie verändert sich die Gemeinschaft?Breyer: Ich möchte, dass Europa in zehn Jahren grüner ist. Beim EU-Beitritt darf die Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik nicht unter die Räder kommen. Wir haben enorm viel erreicht. Ich hoffe, dass die Integration ein Stück voranschreitet - in die Herzen der Menschen.Walter: Europa ist beispielhaft, wir haben eine Wirtschaft, die wettbewerbsfähig und sozial ausgeglichen ist und niemanden links liegen lässt. Diese Erfahrung können wir weitergeben.Giesa: Meine Vision ist, dass wir eine von den Bürgern mitbestimmte europäische Verfassung haben. Deutschland wird wieder zur Lokomotive des Integrationsprozesses. Wir brauchen eine europäische Sicherheitspolitik.Langen: Europa ist ein Modell in der Welt. Es stellen sich nun neue Aufgaben wie Terrorismus, Umwelt, Globalisierung. Ich hoffe auf ein Europa, das die Erweiterung konsolidiert hat und gleichzeitig die Vertiefung schafft - wenn auch die Wege dahin der Echternacher Springprozession gleichen. Aufgezeichnet von Sabine Schwadorf.

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