Mehr Mut, Kanzler!

Sehr geehrter Herr Schröder, ich war - wie viele Millionen Menschen in diesem Land - gestern gespannt, was Sie zur Lage der Nation sagen würden. Denn die Situation erfordert klare Worte und entschlossene Taten. Dieses Land leidet. Vordergründig an Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftlichem Rückgang, Plünderung der Sozialkassen und drohendem Staatsbankrott. Vordergründig. Denn in Wirklichkeit hat Deutschland nur ein Problem: die Heerscharen der Lobbyisten. Jedes Grüppchen, jedes Clübchen hat diese Interessenvertreter an den Hebeln der Macht. Sie füllen die Parlamente und verhindern seit vielen Jahren jede Art von wirklichen Veränderungen. An ihnen krankt dieses Land, daran geht es kaputt. Deshalb muss damit endlich Schluss sein. Und deshalb hat mir Ihre Rede in Teilen auch gut gefallen. Schließlich sind Lockerungen beim Kündigungsschutz, Selbstbeteiligung im Gesundheitsbereich, Einfrieren der Renten, Begrenzung des Arbeitslosengeldes oder auch Lehrstellenabgaben bittere Pillen. Eine wahre Sternstunde für Lobbyisten. Aber da müssen Sie durch, vorausgesetzt, Sie sind wirklich entschlossen, die Probleme zu lösen, statt sie auf die lange Bank zu schieben. Versprochen haben Sie es gestern. Es gibt nämlich keinen Grund für übertriebenes Geschrei, schließlich haben Sie ja auch Steuerentlastungen in Milliarden-Höhe angekündigt, Beitragssenkungen ebenso wie ein Konjunkturprogramm. Selbst das Gezeter der Opposition sollte Sie nicht irritieren. Denn erstens ist das ihr politischer Job, und zweitens hat die Debatte gezeigt, dass Merkel, Stoiber und Westerwelle außer den immer gleichen Phrasen kaum etwas Substantielles zu bieten haben. Vor allem nichts, was irgendwie im Entferntesten nach Konzept aussieht. Sie sagen immer nur wie es nicht klappen kann, statt endlich klar und nachvollziehbar auszusprechen, wie es nach ihrer Meinung denn gehen würde. Genau darauf aber wartet dieses Land. Die Menschen haben den immer absurderen, scheinbar ewig dauernden Streit gründlich satt. Sie wollen grundlegende Veränderungen, nehmen Sie die Leute beim Wort. Doch ihre Rede, Herr Bundeskanzler, hat mir in weiten Teilen auch nicht gefallen. Weil Sie zwar viel über sehr zentrale Fragen gesagt, wichtige Bereiche aber ausgeklammert haben. Kein Wort kam über Ihre Lippen, dass Großkonzerne in diesem Land keine oder kaum noch Steuern zahlen, aber Millionen Euro an öffentlichen Mitteln kassieren. Nicht eine Silbe habe ich gehört zum Thema Abbau der völlig überzogenen deutschen Regelungswut. Nichts kam zur Austrocknung des unüberschaubaren Subventionssumpfs für fast jede Berufs- und Bevölkerungsgruppe und jedes Unternehmen. Warum haben Sie nicht gesagt: Weg mit diesen Sonderregelungen, mit denen manche Lobbyisten lediglich ihre Standes- und Verbandsprivilegien zu retten versuchen, und weg mit den Ausnahmen, die Selbstständigkeit und das freie Spiel der Kräfte verhindern. Warum kamen von Ihnen keine klaren Worte zum Thema Arbeitsmarkt? Und dazu, dass es ein Märchen ist, Vollbeschäftigung zu predigen, weil es sie in der bekannten Form nie mehr geben wird. Nichts darüber, dass wir nicht zu wenig Arbeit haben, sondern dass legale Arbeit nicht mehr bezahlbar ist. Darüber, dass es zwei Möglichkeiten für die Gesellschaft gibt: Entweder wir verbilligen mit Steuergeldern einen Teil der Arbeit, oder wir finanzieren das Arbeitslosenheer? All das hat gefehlt und auch ein Satz zur Arbeitszeit: dass wir in Krisenzeiten mehr buckeln und notfalls für einen begrenzten Zeitraum auch auf Arbeitnehmerrechte verzichten müssen, um den Karren wieder flott zu kriegen. Doch trotz mancher Auslassungen und Ungereimtheiten: Seit gestern haben Sie eine neue Chance. Nutzen Sie sie! Denn es ist nicht nur Ihre letzte. Es ist vor allem Ihre verdammte Pflicht, im Interesse dieses Landes und seiner Menschen endlich den Fuß von der Bremse zu nehmen. Dazu wünsche ich Ihnen viel mehr Mut als da gestern zu spüren war. Denn diesen Mut werden Sie bitter nötig haben. d.schwickerath@volksfreund.de

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