Mehr Steuergelder, weniger Beiträge

BERLIN. Die Krankenkassen werden 2005 einen weiteren Überschuss erwirtschaften. Patienten zahlen Praxisgebühr und mehr für Medikamente. Dennoch werden einige Kassen ihren Beitrag erhöhen. Über den Reformbedarf des medizinischen Systems sprachen wir mit dem SPD-Experten Karl Lauterbach.

Herr Lauterbach, was läuft schief in unserem Gesundheitswesen? Lauterbach: Jene Kassen, die ihre Beiträge 2006 erhöhen, sind von den höheren Arzneimittelkosten, dem Verlust an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und der Abwanderung von Mitgliedern besonders stark betroffen. Ich gehe nicht davon aus, dass es in 2006 zu Beitragssteigerungen auf breiter Front kommt, weil die geltende Reform noch wirkt. Und danach? Lauterbach: 2007 sieht es düster aus. Nach der Koalitionsvereinbarung soll der Kassen-Zuschuss aus der Tabaksteuer entfallen. Außerdem wird die Mehrwertsteuer erhöht. Das kann einen Beitragssprung von bis zu einem Prozentpunkt bedeuten. Unter Berücksichtigung des Sonderbeitrages von 0,9 Prozent, den die Versicherten allein tragen, wären wir dann bei einem Durchschnittsatz von 15 Prozent. Aber die Ministerin hat ein Arzneimittel-Sparpaket geschnürt, das zum 1. April 2006 in Kraft tritt. Ist das nur Kosmetik? Lauterbach: Ohne diese Maßnahme wäre der Kostenanstieg noch deutlich höher. Was wir brauchen, ist eine umfassende Gesundheitsreform. Dabei muss man auch die Streichung des Zuschusses aus der Tabaksteuer überdenken. Findet sich keine alternative Finanzierung, steigen die Beiträge. Am Ende hängt es von der Gesundheitsreform ab, ob wir uns die Streichung leisten können oder nicht. Wie können Union und SPD bei dieser Reform auf einen Nenner kommen, wenn ihre Modelle namens Gesundheitsprämie und Bürgerversicherung völlig konträr sind? Lauterbach: Wir müssen die Ursache der Misere bekämpfen. Es kann nicht länger angehen, dass Gutverdiener zunehmend in die private Krankenversicherung wechseln und für Arbeitslose immer weniger Beiträge aus Steuermitteln an die Krankenkassen gehen. Das heißt, die privat Versicherten müssen sich an der Finanzierung der gesetzlichen Kassen beteiligen. Das klingt nach Bürgerversicherung, die die Union ablehnt. Lauterbach: Es sind verschiedene Möglichkeiten für die solidarische Beteiligung von privat Versicherten denkbar. Das kann durch Steuern geschehen. Um die Abwanderung zu stoppen, kann man auch die Versicherungspflichtgrenze für die gesetzlichen Kassen erhöhen. Das wäre das schleichende Ende der Privatversicherung. Lauterbach: Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet ein gutes System für alle. Die Zwei-Klassen-Medizin - hier private, dort gesetzliche Kassen - wird abgelehnt. Realistisch betrachtet ist eine Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin mit der Union nicht machbar. Dann muss sich die erste Klasse wenigstens an der Finanzierung der zweiten beteiligen. Die Koalition will die Lohnnebenkosten unter die 40-Prozent-Marke drücken. Wäre es da nicht vernünftig, den Beitragsanteil der Arbeitgeber in der Krankenversicherung einzufrieren? Lauterbach: Das würde bedeuten, dass die Arbeitnehmer mehr zahlen. Das kann dem Arbeitsmarkt nur schaden. Denn wenn zur Erhöhung der Mehrwertsteuer in 2007 auch noch eine zusätzliche Beitragsmehrbelastung käme, dann würde nicht nur die Binnennachfrage weiter geschwächt, sondern auch die Schwarzarbeit begünstigt. Was schlagen Sie vor? Lauterbach: Im Interesse bezahlbarer Beiträge bin ich für eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel. Es ist Unsinn, die den Faktor Arbeit belastenden Beitragssätze zu erhöhen, um eine höhere Mehrwertsteuer zu finanzieren. Es muss umgekehrt laufen: Durch eine höhere Steuerfinanzierung sollten die Beitragssätze reduziert werden. Ist hier ein Kompromiss mit der Union denkbar? Lauterbach: Ich kann mir vorstellen, dass sich SPD und Union darauf einigen, die Mitversicherung der Kinder über Steuern zu bezahlen. Der Beitragssatz ließe sich dadurch um etwa 1,5 Prozentpunkte senken. S Mit Karl Lauterbach sprach unser Korrespondent Stefan Vetter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort