Mehrheit nicht gleich Mehrheit

BERLIN. Bundeskanzler Gerhard Schröder fordert eine "eigene Mehrheit” bei der Abstimmung über den Reform-Kompromiss. Doch erneut wollen rot-grüne Abgeordnete ihm die Gefolgschaft versagen.

Wenn Wilhelm Schmidt, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD und Gehilfe von Fraktions-Chef Franz Müntefering, so wie gestern mit einem Lächeln sagt: "Wir werden mit jedem reden”, klingt das wie eine Einladung zum Kaffeeklatsch. Es ist aber eine Drohung, denn "reden” heißt in diesem Falle "bearbeiten”. Wieder einmal. Zum Gespräch gebeten werden erneut Abgeordnete aus dem rot-grünen Lager, mit denen Gerhard Schröder schon seine leidigen Erfahrungen gemacht hat - "Abweichler” oder "übliche Verdächtige” heißen sie im Berliner Politikbetrieb. Der saarländische Abgeordnete Ottmar Schreiner gehört dazu, genauso wie die bayerischen SPD-Parlamentarier Sigrid Skarpelis-Sperk oder Horst Schmidbauer. Diese oder andere Reformkritiker zwangen den Kanzler schon einmal zur Vertrauensfrage, und sie brachten ihn dazu, sogar mit Rücktritt zu drohen. Und nun, nachdem zwischen Bundesregierung, Opposition und Ländern im Vermittlungsausschuss mühsam ein Kompromiss über Steuer- und Arbeitsmarktfragen ausgehandelt worden ist, wollen die Besagten sowie noch einige andere Rot-Grüne dem Kanzler im Bundestag die Gefolgschaft verweigern - unter anderem wegen der verschärften Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose, gegen die man sich vor dem Vermittlungsverfahren ja erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte. Ein Fall für Fraktions-Chef Franz Müntefering, der die "Rebellen" bis zur Fraktionssitzung am Donnerstag, spätestens aber bis zum Votum am Freitag auf Linie bringen soll. Nur hat Müntefering ein faustdickes Problem: Anders als sonst hat er diesmal keine Verhandlungsmasse mehr, der Kompromiss ist fest gezurrt. Zugeständnisse an die Reformkritiker sind also nicht mehr möglich. Schuld an der verfahrenen Situation ist der Kanzler auch noch selbst. Nach anfänglichem Zögern legte sich Schröder am Montagabend fest: "Ich will eine eigene Mehrheit, und ich denke, dass es auch dazu kommen wird”, sagte er der ARD. Von ein paar Abweichlern werde "die Welt nicht untergehen”, beschwichtigte gestern zwar Klaus Brandner, Mitglied des Fraktionsvorstands. Dennoch: Für Gerhard Schröder ist klar, Mehrheit ist doch nicht Mehrheit, schon gar nicht, wenn die Union helfen muss. Wieder geht es damit um die Regierungsfähigkeit der Koalition. Schröder weiß, dass der Reformkompromiss in weiten Teilen deutlich die Handschrift der Union trägt. Deswegen, heißt es aus SPD-Reihen, setze er auf die eigene Mehrheit. Alles andere sei eine Stärkung der Opposition, die sich dann erst recht als Gewinner sehen könnte.

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