"Mein Großvater hat seine ganze Familie verloren": Ein Armenier aus Trier berichtet von den Auswirkungen des Völkermordes im Ersten Weltkrieg

Trier · Der 24. April ist für Armenier der Gedenktag für den Genozid im Osmanischen Reich. Heute jährt er sich zum 100. Mal. Ein Armenier, der seit mehr als 20 Jahren in Trier lebt, erzählt, was die Massaker, die der Bundestag heute als Völkermord benennen will, noch heute für ihn, seine Familie und sein Volk bedeuten.

Trier. Hätte sein Großvater vor 100 Jahren nicht Medizin in der Ukraine studiert, wäre Vigen Markarian (Name von der Redaktion geändert) heute nicht auf der Welt. Denn nur weil sein Opa damals nicht in seinem Heimatort im heutigen Aserbaidschan war, entkam er dem Völkermord - den der deutsche Bundestag heute nach langem Zögern so nennen will - an den Armeniern. "Er hat damals seine ganze Familie verloren", erzählt Markarian. Die Eltern, seine Geschwister, Tanten und Onkel seien damals mit etwa 100 Armeniern in eine Kirche getrieben und dort verbrannt worden. Das habe ihm seine Mutter erzählt, sagt Markarian, "das, was der IS (Islamischer Staat) heute macht, haben die Jungtürken damals mit uns gemacht".In Trier Familie gegründet


Zehn Millionen Armenier leben auf der ganzen Welt verteilt. Zwei Drittel in der Diaspora (als Minderheiten in anderen Ländern), rund drei Millionen in Armenien selbst. Vigen Markarian ist vor mehr als 20 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Den ersten Kontakt mit Deutschen hatte er 1988, als das Deutsche Rote Kreuz bei einem schweren Erdbeben nach Armenien kam und dort half, einen Rettungsdienst aufzubauen. Dabei habe er nette Menschen kennengelernt, die er 1991 in Bayern und Berlin besuchte. "Ich bin mit dem Zug über Moskau nach Berlin gefahren", erzählt er, "das war schon Wahnsinn." Er lacht.

Anfang der 1990er Jahre kam er für ein Aufbaustudium in Politikwissenschaft und öffentlichem Recht nach Trier. In Armeniens Hauptstadt Eriwan hatte er Lehramt studiert. Damals sei es in seiner Heimat sehr unruhig gewesen wegen des Konflikts mit Aserbaidschan um das Grenzgebiet Bergkarabach. Ein Konflikt, der schon seit der Unabhängigkeit der beiden Staaten nach dem Ersten Weltkrieg schwelt und Ende der 1980er Jahre mit dem Zerfall der Sowjetunion wieder ausbrach. "Eigentlich wollte ich nicht in Trier bleiben", sagt er, "die Stimmung war damals ,gegen Ausländer'." Aber dann habe er seine Frau kennengelernt und hier eine Familie gegründet.

Die Geschichte ihres Landes nähmen Armenier schon mit der Muttermilch auf, sagt Markarian. Es gebe kaum eine Familie, die von den Massakern im Ersten Weltkrieg nicht betroffen sei. "Man sagt, die Wände standen damals einen Meter hoch im Blut", erzählt der Armenier. Bis heute fordert insbesondere die armenische Gemeinde in der Diaspora dafür eine Entschuldigung von der Türkei. Dafür müsste diese den Völkermord aber erst einmal anerkennen, was sie bislang verweigert. Dadurch ist das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei bis heute angespannt. Diplomatische Beziehungen existieren nicht. Annäherungsversuche sind bislang gescheitert.Dialog mit den Türken gesucht


"Das Wort Türke ist für viele Armenier ein Schimpfwort", sagt Markarian. Er sehe das nicht so: "Ich will nicht die jetzige Generation verantwortlich machen." Er habe türkische Bekannte, mit denen er gut klarkomme. Manche seien sogar seiner Meinung, was den Völkermord angeht. Zweimal habe er in der Türkei Urlaub gemacht. Auch dort suchte er den Dialog. "Ich bin Armenier aus Deutschland, sage ich dann." Viele seien freundlich und hätten sogar Mitgefühl. Dennoch meint der Trierer: "Die Türkei muss das anerkennen und sich entschuldigen. Ohne diesen Schritt gibt es keine Versöhnung. Die türkische Regierung muss Mut haben, die dunkle Seite ihrer Geschichte auszubügeln und Weichen für eine zivilisierte Zukunft zu stellen." Allerdings fürchte er, dass die Türken Angst hätten, Armenien habe dadurch Ansprüche auf Territorium. Außerdem werde durch die Anerkennung des Genozids Mustafa Kemal Atatürk dafür verantwortlich gemacht.

Der ehemalige türkische Präsident werde als der Gründer der Türkei verehrt. "Deshalb ist das für die Türkei nicht denkbar", vermutet Markarian. Von Deutschland wünscht sich der Familienvater, der versucht, seine Kinder zweisprachig (deutsch und armenisch) zu erziehen, dass es den "Mut hat, die Sache beim Namen zu nennen - trotz der diplomatischen Beziehungen zur Türkei".

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort