Mephisto hat viele Gestalten

Wer sich jetzt - nach 20 Jahren - die Vorgänge in Tschernobyl ins Gedächtnis zurückruft, macht eine bemerkenswerte Feststellung: Der Ablauf der Ereignisse, wie auch die gerade ausgeübte Tätigkeit beim Erhalt der schlimmen Nachricht, haben sich wohl durch die Schock-Wirkung lebenslang eingeprägt.

Erst wenige Tage vor dem Ereignis besuchte ich eine Aufführung von Goethes "Faust". In dieser etwas modernisierten Fassung verkündete Mephisto in selbstherrlicher Manier seinen Zuschauern, er habe "die geheimnisvolle Kraft, die aus kleinsten Teilchen neue Welten schafft. Dann werden Urgewalten berstend sich befrein ...". War es Verheißung oder Bedrohung? Ich war Lehrer an einer Schule mit 430 Kindern. Der 26. April 1986 begann leicht bewölkt mit sonnigen Abschnitten und mäßigem Wind von Osten. Vor Schulbeginn erfuhr das Lehrerkollegium von der Katastrophe in Tschernobyl. Wir alle waren den Ereignissen hilflos ausgeliefert. Ein Anruf beim Kultusministerium ergab erste Verhaltensmaßregeln. So sollte der Aufenthalt im Freien möglichst vermieden werden. Der Sportunterricht dürfte bis auf Weiteres nicht stattfinden. Erst am Vortag hatten Schüler der 6. Klasse im Schulgarten Beete angelegt. Heute, an diesem unglücklichen Tag, sollte gesät und gepflanzt werden. Wegen möglicher Verstrahlung der sensiblen Erde musste die Bestellung des Schulgartens bis auf Weiteres verschoben werden. Alles, was bislang gut und richtig war, geriet in eine Phase der Umstülpung: Sich draußen an der frischen Luft bewegen, ist jetzt ungesund. Frisches Obst und Gemüse krank machend. Es wird jetzt Konservennahrung empfohlen. Sonne und Regen sind ab sofort lebensbedrohlich. Erstmals wurde auch von Krebsgefahr durch Strahlen gesprochen. Ein krank machendes Szenario. Erst nach Wochen kam ein von der Regierung geschickter Mann, der mit einem Geigerzähler den Schulgarten nach Strahlen absuchte und schließlich die Unbedenklichkeit für unsere Arbeit im Schulgarten feststellte. Acht Jahre später traf ich in der Jugendherberge in Bernkastel eine 50 Kinder umfassende Gruppe aus Tschernobyl. Eine Hunsrücker Initiative hatte sie zur Erholung ins Land geholt. Ich sehe sie noch deutlich vor mir - viele von ihnen durch Krankheit gezeichnet. Zur gleichen Zeit teilte der französische Ministerpräsident Jaques Chirac der Weltöffentlichkeit mit, er werde im Roa-Roa-Atoll Atomversuche durchführen. Da stand er also wieder vor mir, der Mephisto, wenn auch in einer anderen Gestalt. Günther Cremer, Allenbach

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