Mit Zwang und Einzelbeatmung

BERLIN. Selten war der Missmut so groß wie gestern bei der Schlussberatung der beiden Regierungsfraktionen zur Gesundheitsreform. Bei der Union stimmten 23 von 200 erschienenen Abgeordneten gegen das Vorhaben, bei der SPD 30 Parlamentarier.

Der ehemalige SPD-Abgeordnete Günter Graf kam gestern im Reichstag ein wenig unter die Räder. Er war extra nach Berlin gefahren, um Autogramme von allen Ministern zu ergattern, die er beim Grünkohlessen im heimischen Friesoythe/Oldenburg versteigern wollte. Bei seinen alten Genossen reichte die Zeit gerade noch, ehe sich die Türen schlossen. Bei der CDU sagte ihm ein ehemaliger Kollege: "Du, geht gerade nicht. Gesundheitsreform. Wir haben Dampf im Kessel." Graf zog mit seinem Trolleykoffer durch die Medienmeute halb verrichteter Dinge wieder zurück Richtung Bahnhof. Die Fraktionsführungen mussten kräftig nachhelfen, um den Widerstand in Grenzen zu halten. "Macht jemand Gewissensgründe geltend?", frage SPD-Fraktionschef Peter Struck die Abgeordneten. Nur solche Gründe, so die Lesart der Spitze, berechtigen dazu, auch am Freitag im Bundestag mit Nein zu votieren. Und eine Gewissensfrage sei das hier ja wohl nicht. Also gelte die Geschäftsordnung: "Getroffene Entscheidungen werden im Bundestag geschlossen vertreten." Etliche der SPD-Kritiker wollen sich an diesen Fraktionszwang halten, andere, wie der Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg, nicht. Aber Wodarg ist bei der schweigenden Mehrheit sowieso unten durch. Abendessen und Sondersitzung

Einige Abgeordnete kamen mit Kopien eines "Spiegel"-Artikels in den Saal. Dort hatte Wodarg den Befürwortern vorgeworfen, sie setzten sich mit der Kritik nicht auseinander. "Das wird dem hier verdammt übel genommen, und das sage ich gleich auch", meinte ein entschlossener Parlamentarier. Die Wogen gingen hoch. Erschwerend kam hinzu, dass sich in letzter Minute auch die Haushaltspolitiker der SPD, angeführt vom Thüringer Abgeordneten Carsten Schneider, gegen die Reform stellten. Kurzfristig hatte die Koalitionsarbeitsgruppe beschlossen, den Steuerzuschuss für die Krankenkassen schneller als geplant zu erhöhen. Mehrkosten: rund vier Milliarden Euro. Zwar hatte Finanzminister Peer Steinbrück zugestimmt, doch verlangte nun Schneider ultimativ eine Gegenfinanzierung. Besonders pikant wird es heute im Gesundheitsausschuss. Dort stellen die Kritiker fast die Mehrheit. Wodarg und sechs Mitstreiter wollen nun zur Schlussabstimmung ihre Stellvertreter schicken, um nicht in Verlegenheit zu kommen. Ein Nein des federführenden Ausschusses kurz vor der Schlussberatung im Bundestag wäre parlamentsgeschichtlich auch einmalig. Struck lud die Mitglieder des Ausschusses zu einer Sondersitzung. Ebenso wie Unions-Fraktionschef Volker Kauder, der noch ein gemeinsames Abendessen mit der "Jungen Gruppe" einschieben musste. Rund zehn Youngster der Unions-Fraktion hatten sich unter Führung von Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder gegen die Reform ausgesprochen. Einzelbeatmung nennt man solche Termine. Davon wird es bis Freitag wohl noch mehr geben. Der Pensionär Graf hatte beim Verlassen des Reichstages denn auch kein Heimweh nach früheren Zeiten. "Ich brauch diesen Trubel wirklich nicht mehr."

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