Moralisch rigoros

BERLIN. Mit Gesine Schwan (60) hat Gerhard Schröder so seine Erfahrungen gemacht. Noch vor kurzem zum Beispiel, als es um die Elite-Unis ging, bekam der Kanzler von der Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder einige kritische Worte ins Stammbuch geschrieben.

Gesine Schwan, Politologie-Professorin, gilt eben als temperamentvolle Intellektuelle mit internationalem Ruf, als geistig unabhängig und moralisch rigoros. Und genau deswegen hat die Katholikin und Mutter zweier Kinder ihrer SPD mitunter manche Konfrontation beschert. Schwan wurde am 22. Mai 1943 als Tochter eines späteren Oberschulrats im Berliner Norden geboren. Sie stammt aus einem sozial engagierten Elternhaus, das im Nationalsozialismus zu protestantischen und sozialistischen Widerstandskreisen gehörte. Im letzten Kriegsjahr versteckten die Eltern noch ein jüdisches Mädchen, und nach dem Krieg setzen sie sich dann vor allem für die Freundschaft mit Polen ein. Bis heute hat dies das Leben und die Arbeit von Gesine Schwan geprägt. 1970 gehen daher zwei Träume für die streitbare Hochschullehrerin in Erfüllung, sieht man von dem möglichen dritten, nämlich am 23. Mai erste Bundespräsidentin zu werden, einmal ab: Polen wird EU-Mitglied, und die Chefin der Viadrina plant, im Herbst zusätzlich eine kleine west-östliche Fakultät zu eröffnen - für die unterschiedlichsten, politischen Eliten von übermorgen. Bereits heute studieren an der östlichsten deutschen Hochschule knapp 5100 junge Menschen aus dreißig Nationen. Schwan ist seit 1999 Präsidentin der Viadrina. Rund 20 Jahre ist es her, da ging die heute 60-Jährige zum ersten Mal auf Konfliktkurs zu den Herren Schröder und Lafontaine. Denn damals nervte sie das vermeintlich bequeme, linke Verständnis von Sozialdemokratie der beiden. Schwan galt als Vertreterin des rechten Parteiflügels und hatte sich seit 1979 für Helmut Schmidts Nato-Doppelbeschluss eingesetzt. Als sie sich dann auch noch 1983 mit Willy Brandt anlegte, weil die SPD aus ihrer Sicht die Ostblock-Diktatoren zu sehr hofierte und nicht die Widerstandskämpfer, flog sie 1984 aus der Grundwertekommission der Partei. Ein bis dahin einmaliger Vorgang. Alte Kamellen? Seit 1996 ist die Polit-Expertin jedenfalls wieder Mitglied der Kommission, und Gerhard Schröder soll öfter ihren Rat suchen. Nun wird sie also für Rot-Grün nach dem höchsten Amt im Staate greifen.

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