Nach der Trauer kommt die Wut

Ferguson · Seit der Polizist Darren Wilson im August den Teenager Mike Brown erschossen hat, gehen die Menschen in Ferguson im US-Staat Missouri auf die Straße. Die Wut wegen der Nichtanklage des Polizisten schlägt um in Wut auf die Führung des Bundesstaats, die die Nationalgarde zwar mobilisierte, aber nicht ausrücken ließ, um Plünderungen zu verhindern. Auch Kritik an Barack Obama wird laut.

 Queen Barnes (links), die Besitzerin eines halb zerstörten Kosmetiksalons, ist sauer auf die Nationalgarde, die Politiker und die Plünderer. Sie kritisiert auch US-Präsident Barack Obama. TV-Foto: Frank Herrmann

Queen Barnes (links), die Besitzerin eines halb zerstörten Kosmetiksalons, ist sauer auf die Nationalgarde, die Politiker und die Plünderer. Sie kritisiert auch US-Präsident Barack Obama. TV-Foto: Frank Herrmann

Ferguson. Queen Barnes ist sauer, auf die Nationalgarde, auf die Plünderer, auf die Politiker. Hinter ihr liegt das Schaufenster ihres Kosmetiksalons in Scherben, gelbes Plastikband der Polizei markiert die Szene als Schauplatz eines Verbrechens. Drinnen aufgeweichtes Holz, kaputte Sessel. Verglichen mit Prime Beauty, einem Salon in der Nähe, hatte Barnes noch Glück. Prime Beauty liegt restlos in Trümmern, die Decke ist eingestürzt, als hätte die Erde gebebt an der West Florissant Avenue. Bei Barnes ist es nur ein Wasserschaden. Feuerwehrleute schlugen das Fenster ein und hielten ihren Schlauch auf die Ladeneinrichtung, um zu verhindern, dass angesichts des Flammeninfernos fünfzig Meter weiter auch Queen\'s Laden Feuer fing. Es ändert nichts daran, dass Barnes vor Wut kocht. Dass etwas passiert war am späten Abend, erfuhr sie erst am Morgen danach. Dass Polizei und Nationalgarde - so sieht sie es - den Plünderern die West Florissant Avenue praktisch kampflos überließen, ist ihr schlicht ein Rätsel. Kein Uniformierter, hörte sie von Freunden, sei auch nur in der Nähe gewesen, als vermummte Angreifer ihre Gewaltorgie feierten.Queen: Gardechef ist ein Versager 24 Stunden danach zeigt die Garde Flagge, dicht an dicht stehen ihre Reservisten vor den verwüsteten Ladenzeilen. Zu spät, deshalb wirkt es fast schon bizarr. "Der Gouverneur hat mich im Stich gelassen", schimpft die Frau mit dem kunstvoll blondierten Haar und nennt Jay Nixon, den Mann, dem die Garde untersteht, einen kompletten Versager. Dann ist Obama an der Reihe. Sie habe ihn gewählt, ihm vertraut, doch als er zur Ruhe aufrief, nachdem eine Grand Jury den Polizisten Darren Wilson entlastet hatte, da sah sie am Fernseher einen Präsidenten, der merkwürdig distanziert wirkte. Als habe er bloß vom Teleprompter abgelesen, als seien Worte aus seinem Mund geflossen, an die er selber nicht glaubte. "Hoffentlich zeigt Obama bald mal, dass er sich sorgt. Wird höchste Zeit, dass er sich hier mal blicken lässt." Szenenwechsel. In der Greater St. Mark Family Church steht Michael Brown Senior hinter einem Wald von Reportermikrofonen und sagt kein einziges Wort. Der Vater Mike Browns, des erschossenen Teenagers, sei zu aufgewühlt, vielleicht treffe er in seinem Schmerz nicht den richtigen Ton, erklärt sein Anwalt das Schweigen. "Was auf die Anklagebank gehört, ist dieses Verfahren", sagt Benjamin Crump über das Prozedere einer Grand Jury, die Wilson hinter verschlossenen Türen freisprach, statt grünes Licht für einen Prozess zu geben. Statt einen neutralen Sonderermittler einzusetzen, habe man Robert McCulloch, einen Staatsanwalt mit ausgewiesener Nähe zur Polizei, eine Ein-Mann-Show abziehen lassen. Kein Jurist der Gegenseite habe kritisch nachfragen, keiner einen Augenzeugen ins Kreuzverhör nehmen können. "Eine Farce", beschwert sich Crump und verlangt, dass künftig alle Polizisten Videokameras am Hemd oder an der Jacke tragen, damit lückenlos transparent wird, was immer sie tun.Menschen fühlen sich diskriminiert

Es ist die Geheimniskrämerei der Geschworenen-Runde, mehr noch als der De-facto-Freispruch an sich, die schwarze Amerikaner derart in Rage bringt. Jimmie Matthews, ein Immobilienmakler, der in der Kirche Flugblätter verteilt, weil er an die Spitze des Stadtrats von St. Louis gewählt werden möchte, spricht verbittert von Plantagenjustiz. Habe das Opfer dunkle Haut, glaube man, auf ein faires Verfahren verzichten zu können, "wir sind ja nur die Enkel von Sklaven". Wilson wiederholt in einem Fernsehinterview, was er intern zu Protokoll gegeben hatte. Als Brown durchs offene Fenster seines Streifenwagens auf ihn einschlug, habe er sich gefühlt wie ein Fünfjähriger im Clinch mit Hulk Hogan, dem zwei Meter großen Wrestler. Er habe die Kraft dieses Mannes gespürt, er habe gefürchtet, jeder weitere Schlag könne ihn ohnmächtig werden lassen, und in höchster Not geschossen. Warum er dem Achtzehnjährigen nachlief, als der, zweimal getroffen, endlich von ihm abließ? "Es ist nicht mein Job, dazusitzen und abzuwarten", sagt Wilson. "Es ist mein Job, die Verfolgung aufzunehmen." Extra

Seit den tödlichen Polizeischüssen auf den unbewaffneten schwarzen Teenager Michael Brown kommt es in Ferguson im US-Staat Missouri immer wieder zu Unruhen. Ein Überblick über die Ereignisse: 9. August: Der weiße Polizist Darren Wilson erschießt den 18-Jährigen in dem Vorort von St. Louis. Brown soll den Beamten bedrängt haben. Augenzeugen sagen, Brown habe mit erhobenen Händen auf dem Boden gekniet, als er erschossen wurde. 10. August: Auf den Straßen Fergusons gibt es erste Proteste, Geschäfte werden geplündert. In den Tagen darauf eskaliert die Gewalt. Nach weiteren Zusammenstößen zieht Gouverneur Jay Nixon die örtliche Polizei ab. Nun ist die Polizei von Missouri zuständig. 15. August: Auch in anderen US-Städten gehen Menschen auf die Straße. Zum Erkennungszeichen werden ihre erhobenen Hände - in Anspielung darauf, dass Brown vor seinem Tod die Hände gehoben haben soll. 16. August: Die Behörden rufen den Notstand aus und verfügen eine nächtliche Ausgangssperre in Ferguson. 18. August: Bei neuen Krawallen bewerfen Demonstranten Polizisten mit Brandsätzen. Nach Behördenangaben fallen auch Schüsse. Gouverneur Nixon ruft die Nationalgarde zur Hilfe. 20. August: Eine Geschworenenjury nimmt Beratungen auf, ob ein Verfahren gegen Wilson eröffnet wird. 23. August: Eine Internet-Spendenaktion für den Todesschützen bringt innerhalb von fünf Tagen 235 000 Dollar (knapp 180 000 Euro) ein. 5. September: Das US-Justizministerium ermittelt gegen die Polizeiabteilung in Ferguson. Untersucht werden soll, ob sie seit Jahren systematisch die Rechte von Bürgern verletzt, gegen die Verfassung oder Bundesgesetze verstoßen hat. 24. Oktober: Amnesty International (AI) wirft der Polizei in Ferguson Menschenrechtsverletzungen vor. In einem Bericht verurteilt AI die übertriebene Reaktion der Polizei auf meist friedliche Proteste. 25. November: Die Entscheidung der Geschworenenjury ist gefallen. Darren Wilson muss nicht vor Gericht. Neue Proteste schlagen in Gewalt um.dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort