Nach Messerangriff auf jüdischen Lehrer in Frankreich: Widerstand mit der Kippa

In Frankreich ist nach dem Messerangriff auf einen jüdischen Lehrer ein Streit um das Tragen der Kippa entbrannt. Ein Vertreter der jüdischen Gemeinde hatte geraten, auf die Kopfbedeckung zu verzichten, „um Menschenleben zu retten“.

Mit einer dunklen Schildmütze auf dem Kopf hat Benjamin Amsellem das Krankenhaus verlassen, in dem er wegen seiner Stichwunden behandelt wurde. Ein 15-Jähriger, der sich zum Islamischen Staat bekannte, hatte den jungen Lehrer am Montag in Marseille auf offener Straße mit einer Machete von hinten angegriffen. Da trug Amsellem, der auf dem Weg in die jüdische Schule La Source war, noch eine Kippa.

Doch wenige Stunden nach der Messerattacke riet der Vorsitzende des israelitischen Konsistoriums von Marseille den männlichen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, nicht mehr mit der runden Kopfbedeckung auf die Straße zu gehen. "Es geht allein darum, Menschenleben zu retten. In einer Ausnahmesituation müssen leider außergewöhnliche Maßnahmen getroffen werden", begründete Zvi Ammar im Fernsehen seinen Appell.

Seine Aufforderung stieß in der jüdischen Gemeinde allerdings auf Widerspruch. "Das bedeutet einen Sieg für die Dschihadisten. Man muss im Gegenteil Widerstand leisten, kämpfen", forderte der Vorsitzende des Dachverbandes jüdischer Einrichtungen CRIF, Roger Cukierman, im Radio.

Erst am Samstag hatten die Franzosen der vier Juden gedacht, die ein Jahr zuvor in einem koscheren Supermarkt von dem Islamisten Amedy Coulibaly erschossen worden waren. Coulibaly, ein Komplize der Angreifer auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo", hatte sich ebenfalls zur Terrororganisation Islamischer Staat bekannt. "Jeder einzelne von uns fühlt sich bedroht, aber wir können nicht hinnehmen, dass wir Zielscheiben sind, weil wir Juden sind", sagte Cukierman bei der Zeremonie, zu der der CRIF auch islamische Geistliche geladen hatte. "Sind wir zweitklassige Bürger geworden wie in der dunklen Zeit unserer Geschichte?", fragte der CRIF-Vorsitzende mit Blick auf die NS-Besatzung, die er selbst als Kind versteckt überlebt hatte.

Zahl der Auswanderer nach Israel auf Rekordhöhe

Die antisemitische Gewalt, die in den vergangenen Jahren zunahm, treibt immer mehr jüdische Franzosen zur Auswanderung nach Israel. 7900 Juden verließen laut der Behörde Jewish Agency im vergangenen Jahr das Land Richtung Israel. Frankreich, in dem mit rund 500.000 die meisten Juden in Europa leben, war damit das Auswanderungsland Nummer Eins. Die Regierung bemüht sich, diesen Trend zu stoppen. "Es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass immer mehr Juden Frankreich verlassen, weil sie sich hier nicht mehr in Sicherheit fühlen", sagte Regierungschef Manuel Valls bei der Zeremonie für die Opfer des jüdischen Supermarktes. "Wir müssen die Freiheit jedes Bürgers garantieren, seinen Glauben zu leben", forderte auch Justizministerin Christiane Taubira nach dem Angriff in Marseille, wo mit rund 70.000 Mitgliedern die zweitgrößte jüdische Gemeinde Frankreichs lebt.

Der Junge, der Amsellem angriff, galt dort als guter Gymnasiast. Der Teenager türkisch-kurdischer Herkunft, der durch das Internet einen radikalen Wandel vollzog, zeigte nach seiner Festnahme keine Reue. Er schäme sich lediglich, den Lehrer nicht getötet zu haben, bekannte der Jugendliche, der sich nun vor einem Anti-Terror-Richter verantworten muss.

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