Niedergang mit langer Vorgeschichte

Berlin · Den Volksparteien geht es schlecht. Nach dem Wahlsonntag am 13. März waren große Koalitionen aus Union und SPD in gleich zwei Bundesländern nicht einmal mehr rechnerisch möglich - ein Novum in der bundesdeutschen Politik.

Eine Volkspartei ist laut Lexikon eine Partei, die für Wähler und Mitlieder aller gesellschaftlichen Schichten und unterschiedlichen Weltanschauungen offen ist, die vielfältige Interessen bündelt und deshalb eine breite gesellschaftliche Basis hat. So betrachtet stecken die Volksparteien schon per Definition in der Krise. Das Wahlvolk läuft Union und SPD davon. Und bei den Mitgliedern sieht es nicht besser aus. Liegt das an den Inhalten? Sind es Organisationschwächen? Haben die Menschen schlicht keinen Bock mehr auf Politik? Oder lässt das Erstarken der AfD die einst so stolzen Großparteien schrumpfen?

Um die ganze Dimension zu verstehen, muss man tiefer in die Geschichte eintauchen. "Hatten bei den Wahlen 1982 und 1976 noch über 80 Prozent aller Wahlberechtigten CDU, CSU und SPD die Stimme gegeben, so ging die Bindekraft der Volksparteien bis zum bisherigen Tiefpunkt bei der Bundestagswahl 2009 weitgehend verloren", erläutert Manfred Güllner, Chef des Forsa-Instituts. Sein Befund klingt auch deshalb dramatisch, weil er die Nichtwähler ausdrücklich einbezieht.

Doch die gängige Praxis, den Zuspruch für eine jeweilige Partei nur am Umfang der abgegebenen Stimmen abzulesen, wirkt schon etwas wie Augenwischerei. 2009 also, um auf die Dramatik zurück- zukommen, votierten nur noch 40 von 100 Wahlberechtigten für Union und SPD. 60 Prozent wählten also bereits damals eine andere Partei - oder eben gar nicht.

Besonders bitter sieht es für die Sozialdemokraten aus. In ihren besten Zeiten, das war in den 1970er Jahren, als Willy Brandt und Helmut Schmidt die Deutschen begeisterten, zählte man mehr als eine Million eingeschriebene Genossen. Heute sind es nur noch knapp 443 000. Auch die CDU verfügte schon mal über 790 000 Mitglieder. Inzwischen liegt man nahezu gleichauf mit der SPD. "Der drastische Bedeutungsverlust beider Parteien begann also lange vor dem Auftauchen der AfD und lange Zeit vor dem Zuzug der vielen Flüchtlinge nach Deutschland", sagt Güllner.

Das Flüchtlingsproblem zehrt besonders stark am Image der Union. Lange Zeit galt sie als Garant der inneren Sicherheit. Nach einer Erhebung des Instituts für Demoskopie in Allensbach sahen 2011 noch 56 Prozent der Bürger die C-Parteien in dieser Rolle. Inzwischen ist die Zahl auf 38 Prozent geschrumpft. Aktuelle Statistiken über die wachsende Zahl von Einbruchsdiebstählen tun ein Übriges. Unter einer solchen Entwicklung leide zwangsläufig das Vertrauen in CDU und CSU, heißt es in der Allensbach-Analyse. Und dadurch erstarke letztlich die AfD.
Sommerserie: parteien in der Krise

Die Querelen in dieser neuen Gruppierung zeigen freilich, dass es gar nicht so einfach ist, eine neue Partei zu gründen oder gar Volkspartei zu werden. Protest ist attraktiv, weil einfach, konstruktive Programmarbeit hingegen schwer. Früher oder später aber muss es in jeder Partei zu Kompromissen kommen, wenn sie mehr als nur einzelne Spezialinteressen vertreten will. Und dann scheiden sich die Geister. Bisher hat es nur zwei erfolgreiche Neugründungen gegeben, die ihre turbulente Gründungsphase überstanden haben, die Grünen und die Linke.
Mit mangelndem Vertrauen hat zweifellos auch die Krise der SPD zu tun. "Dabei möchten viele wieder SPD wählen", sagt Güllner. Aber die Partei mache Politik für Randgruppen, kritisiert er.

Der Mindestlohn, die Rente mit 63, aber auch die Frauenquote in Aufsichtsräten seien nur für eine Minderheit von Bedeutung. "Die große Mehrheit fühlt sich nicht mehr vertreten", so Güllner. Womöglich erklärt sich daraus auch die hohe Zustimmung für eine Aussage, die das Allensbach-Institut den Befragten vor einigen Monaten vorlegte: "Die Politiker haben keine Ahnung, das könnte ich besser als die" - immerhin fast die Hälfte (46 Prozent) konnte sich damit identifizieren. Union und SPD sollten weniger in Machtoption denken, sondern die Interessen der Menschen besser aufnehmen, empfiehlt Güllner. Gefährdet der Bedeutungsverlust der Volksparteien die Demokratie?

Vielleicht muss sie sich nur neu erfinden, um sich weiter zu legitimieren. Eine Absenkung des Wahlalters wäre denkbar. Ebenso mehr plebiszitäre Elemente. Die Schweizer zum Beispiel haben mit Volksabstimmungen gute Erfahrungen gemacht. Die Briten eher nicht.

Auch Online-Voten könnten die Demokratie beleben. Klar ist, dass die Volksparteien nicht so weitermachen dürfen wie bisher, wenn es ihnen noch ernst um dieses politische Gütesiegel ist, und dass die parlamentarische Demokratie neue Impulse braucht, um noch repräsentativ zu sein für den Willen des Volkes.

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