"Niemand hat die Wahrheit gepachtet"

Berlin. Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht, gegen Persönlichkeitsrechte, Vorteilsnahme, Diskriminierungen, unangemessene Darstellungen in Wort und Bild, die Liste der Fälle für den Presserat ist lang. Das Kontrollgremium ist mittlerweile 50 Jahre alt.

Noch nicht einmal in der Rückschau taugt eine der Rügen und Missbilligungen aus den vergangenen 50 Jahren zur Anekdote. Zu ernst ist es, wenn Zeitungen die Würde von Opfern ignorieren, Journalisten nicht sorgfältig recherchieren oder schlichtweg die Distanz zu Politik und Wirtschaft verlieren. Gegebenenfalls hebt dann der deutsche Presserat den Finger, um die Medien auf ihre eigenen Verfehlungen hinzuweisen. Dann geht es um Glaubwürdigkeit, um Qualität und das Selbstverständnis der gesamten Branche. Oder, wie Bundespräsident Horst Köhler gestern in Berlin beim Festakt zum Geburtstag des Rates meinte, "um die Einsicht, dass in der freien Presse niemand die Wahrheit für sich gepachtet hat". Die Geschichte des Presserats ist eine wechselhafte, weil sich in der Vergangenheit große Verlage immer mal wieder der Selbstverpflichtung zum Abdruck von Rügen entziehen wollten. Kritiker sahen und sehen in ihm einen zahnlosen Tiger ohne große Wirkungskraft, der nur das Gewissen der Journalisten beruhigen soll. Doch in den Medienhäusern obsiegte wohl die Einsicht, dass freiwillige Kontrolle allemal besser ist als unfreiwillige - wie etwa durch den Gesetzgeber. Inzwischen ist der Presserat daher als Institution nicht mehr wegzudenken, und auch seine Grundsätze stellt kaum mehr jemand ernsthaft zur Disposition. Indem der Presserat die Fehlbarkeit des Journalismus' anerkannt habe, mache er sich auch zum Anwalt "derer, die Opfer der freien Presse werden", lobte Köhler. Der Präsident mahnte: "Nicht alles, was von Rechts wegen zulässig wäre, ist auch ethisch vertretbar." Keine Garnierung von Werbebotschaften

Köhler erhielt gestern die Überarbeitung des Pressekodexes von 1973. Neben vielen ethischen Maßstäben für die Arbeit von Journalisten wird darin auch die Trennung von Werbung und Redaktion schärfer als bisher eingefordert. Ein Thema, dem sich Köhler in seiner Rede ausgiebig widmete: "Ein Journalismus, der bloß noch zur Garnierung oder vielleicht sogar zur Tarnung von Werbebotschaften dient, der hat sich selbst aufgegeben", meinte der Präsident. Man glaubt übrigens, die Übeltäter zu kennen, die sich jedes Jahr Rügen oder Missbilligungen einfangen: der Boulevard, vorneweg die "Bild"-Zeitung. Fünf Rügen erhielt das Blatt bislang 2006 - zum Beispiel für die Veröffentlichung des Fotos eines zehnjährigen Jungen, der im April bei einem Terroranschlag in Ägypten getötet worden war. Dies geschah ohne Einwilligung der Eltern. Doch zur Wahrheit gehört auch: "70 Prozent der Beschwerden kommen aus dem lokalen und regionalen Bereich", so Ilka Desgranges, Mitglied des Beschwerdeausschusses. Da geht es dann um versteckte Schleichwerbung, verfälschte Leserbriefe, Fotoretuschen, um unseriöse Umfragen und Ranglisten. Jeder kann sich übrigens beschweren, und das wird fleißig getan: Bis Oktober geschah es 748-mal, häufiger als im gesamten letzten Jahr.

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