Noch kein Menetekel

Der gestrige Wahltag war der zweite Stimmungstest für die große Koalition in diesem Jahr, und wie schon bei den drei Urnengängen im März gibt es wieder keine klare Tendenz. Die Union hält sich stabil, aber nur auf dürftigem Niveau.

Die SPD kann mit Klaus Wowereit einen neuen Hoffnungsträger auf der Bundesbühne begrüßen und das blaue Auge Harald Ringstorffs bewundern. Aber die rot-roten Koalitionen, mit denen sie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern antrat, haben herbe Verluste erlitten. Die PDS wurde in Berlin, ganz besonders im Ostteil der Stadt, durch ihre Regierungsbeteiligung regelrecht entzaubert. Die rot-rote Option, von der manche schon für den Bund geträumt haben, hat selbst bei den Linken Strahlkraft eingebüßt. Der Stimmungstest für die große Koalition steckt in anderen Daten: In der Stärke der kleineren Parteien, der niedrigen Wahlbeteiligung und besonders in den Erfolgen der NPD. Für eine nachhaltige Aufwallung, geschweige denn für tieferes Nachdenken, wird aber selbst der Einzug der Neonazis in den Schweriner Landtag wohl nicht sorgen. Zu sehr ist man gelegentliche Wahlerfolge der Rechtsextremen schon gewohnt. Sie kommen außer im Osten auch in "besten" westdeutschen Kreisen vor, wie etwa in der Bremer Bürgerschaft. Man hat außerdem gelernt, dass die Rechten kurzfristig die Protestwähler auf sich lenken können, zumal, wenn sie wie in Mecklenburg-Vorpommern, eine regelrechte Materialschlacht entfachen. Man weiß auch, dass sie hernach meist eine harmlose Eintagsfliege bleiben. Fast alle ihre Landtagsfraktionen haben sich nach und nach in Wohlgefallen aufgelöst. Niemand sollte sich freilich darauf verlassen, dass es immer so läuft. Der Verdruss an der Politik ist schleichend und umso gefährlicher. Wenn nur noch 38 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie für die beste Staatsform halten, ist dies alarmierend. Verlust der Zivilgesellschaft - die sich in Wahrheit in manchen Landstrichen des Ostens noch nie aufbauen konnte - , Frust über Arbeits- und Perspektivlosigkeit, der Wegzug der Aktiveren, all das mögen Erklärungen sein. Ebenso wie die Blauäugigkeit der Justiz und mancher Kommunalverwaltungen im Umgang mit den Neonazis. Aber nun, nach der Wahl, nach einem neuen Verbotsverfahren gegen die NPD zu rufen, hieße den Extremisten noch den Lorbeer angeblicher Benachteiligung hinterher zu werfen. Demokratie machen Demokraten. Das Erstarken der Rechten und das Anwachsen der Zahl der Nichtwähler ist immer auch ihr Versagen. Der gestrige Wahltag war dafür wieder ein Zeichen, wenn auch noch kein Untergangs-Menetekel. Die Substanz der Politik der demokratischen Parteien, ihre Kultur, muss besser werden, damit sie wieder mehr Menschen überzeugen. Über Inhalte wird man immer streiten - es geht um den Stil. Wer sich nur einmal betrachtet, welche sachfremden Motive eine Rolle dabei spielen, dass die große Koalition eine Gesundheitsreform bisher nicht zustande bekommt, der wird zu dem Schluss kommen, dass das "Jetzt reicht's" der Rechten auch hierin Widerhall gefunden haben dürfte. nachrichten.red@volksfreund.de

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