Oberste Priorität: Arbeit schaffen!

BERLIN. Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner mit Spannung erwarteten Grundsatzrede in Berlin Regierung und Union vor dem Job-Gipfel eindringlich zu einem gemeinsamen Kraftakt gegen die Massenarbeitslosigkeit aufgerufen.

Ohne Umschweife kam der Bundespräsident gleich im ersten Satz zur Sache: "In Deutschland sind offiziell 5,216 Millionen Menschen arbeitslos. Sie werden daher von mir keine Festrede erwarten." Niemand hatte gestern damit gerechnet, dass Horst Köhler wohltuende, lobende oder verschleiernde Worte beim Arbeitgeberforum "Wirtschaft und Gesellschaft" finden würde. Ovationen und Kritik

"Weiter" so gehört nicht zum Selbstverständnis dieses Bundespräsidenten. Fast mit demütiger Stille verfolgten daher die rund 550 Gäste aus Politik und Wirtschaft die Grundsatzrede des Staatsoberhauptes. Nur zwei Mal gab es in den 30 Minuten Applaus, ansonsten regierte die große Nachdenklichkeit. Horst Köhler nutzte den bedächtigen Ton. Und wie erwartet legte er tagespolitisch den Finger in hausgemachte, deutsche Wunden. Seine Zuhörer dankten es ihm mit stehenden Ovationen. Andere hingegen sparten nicht mit heftiger Kritik. 5,216 Millionen. Eine Zahl, die den Fortgang der Rede zwei Tage vor dem morgigen Jobgipfel beim Bundeskanzler bestimmte. Bis kurz vor Beginn war an dem Manuskript gefeilt worden: Ein vorhandener Entwurf, hieß es, sei immer wieder überarbeitet worden. Insbesondere, weil sich das Interesse von Tag zu Tag mehr auf Köhler fokussierte. Die Rede an die Nation glich deshalb fast der eines amerikanischen Präsidenten, nicht nur, weil Köhler sie vom Teleprompter ablas. Gleich mehrfach bemühte er die Geschichte, griff auf Bilder zurück, die für ihn das Wirtschaftswunder symbolisierten: Er erinnerte an die Zeit, als der VW-Käfer "lief und lief und lief" und zitierte Ludwig Erhard als Übervater der sozialen Marktwirtschaft. "Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand, Stabilität und Ansehen gebracht hat", kritisierte Köhler. Stattdessen gebe es seit Jahrzehnten immer neue Auflagen und Regulierungen. Köhlers zentrale Botschaft war aber diese: "Was der Schaffung und Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze dient, muss getan werden. Was dem entgegensteht, muss unterlassen werden", skizzierte er eine "politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Ein Wink gegen das Antidiskriminierungsgesetz der rot-grünen Koalition? Er sprach sich für eine umfassende Steuerreform aus, dazu müsse mit einer Verbesserung der Unternehmensbesteuerung begonnen werden. Köhler, der gelernte Wirtschaftler. Gleichzeitig plädierte der Präsident für eine Föderalismusreform, und mit Blick auf das mittelmäßige deutsche Bildungssystem fragte er provokant: "Wie lange wollen wir noch zusehen?" Insbesondere für die Parteien gab es die erwartete präsidiale Schelte: "Taktische Reformpausen wegen Wahlterminen oder einen Zickzack-Kurs können wir uns nicht leisten." Und: "Regierung und Opposition stehen in patriotischer Verantwortung." Gerhard Schröders Reformagenda sei zwar ein mutiger Anfang, lobte er die Bundesregierung. "Doch wir müssen unseren Menschen ehrlich sagen, dass wir es damit noch nicht geschafft haben." Köhler, der unbequeme Präsident. Nüchtern macht er allerdings auch deutlich, dass es die Aufgabe von Unternehmen sei, am Markt erfolgreich zu sein und Gewinne zu machen. Die gastgebenden Arbeitgeber und die Politiker der Opposition nickten dankend, den anwesenden Koalitionären entglitten eher die Gesichtszüge. "Gesprochen wie ein Bankenpräsident"

Die Reaktionen auf die Rede konnten daher unterschiedlicher nicht sein: Das Lager der Opposition und die Wirtschaft fühlte sich bestätigt. Herbe Kritik hagelte es von den Gewerkschaften und der SPD. Er habe gesprochen wie ein "Bankenpräsident" und kein Wort zur sozialen Gerechtigkeit gesagt, hieß es in der Fraktion der Genossen. "Er hätte Ross und Reiter nennen müssen", kommentierte Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner. "Die wirkliche wichtige Rede wird am Donnerstag gehalten", kanzelte SPD-Chef Müntefering Köhler mit dem Verweis auf die Regierungserklärung des Kanzlers ab.

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