"Oberstes Ziel ist die Vermeidung von Opfern durch neue Taten"

Die Resozialisierung von Strafgefangenen spielt seit Mitte der 70er Jahre eine wichtige Rolle in den Gefängnissen. Ist die Haft dadurch keine echte Strafe mehr?

 Winfried Conrad, Vorsit zender Landes verband der Strafvollzugs bediensteten (BSBD). Foto: privat

Winfried Conrad, Vorsit zender Landes verband der Strafvollzugs bediensteten (BSBD). Foto: privat

Foto: (g_pol3 )

Herr Conrad, der Strafvollzug hat in den vergangenen 40 Jahren einen großen Wandel erlebt. Hätten kriminelle Karrieren wie die von Wolfgang Focke vermieden werden können?Conrad Natürlich prägen Erlebnisse der Kindheit den Werdegang eines Menschen. Wenn ein Kind sexuellen Missbrauch erlebt, bleibt das hängen. Das darf aber nicht generell als Entschuldigung gelten. Wir haben 1977 ein neues Gesetz bekommen, das für die Beschäftigten im Vollzug eine Umgewöhnung bedeutet hat. Ziel war nun die Resozialisierung. Als ich 1978 mit meiner Arbeit begonnen habe, gab es Beamte, die mit der neuen Ausrichtung Probleme hatten. Es ging früher also deutlich mehr um die Bestrafung als heute?Conrad Ja, die ganze Gesellschaft war anders. Die Strafe hatte einen viel höheren Stellenwert. Sichere Unterbringung war oberstes Ziel. Und die Gewöhnung an einen gesicherten Tages- und Arbeitsablauf. Sauberkeit und Ordnung standen im Mittelpunkt. Die Behandlung der Strafgefangenen spielte kaum eine Rolle. Was hat sich geändert?Conrad Das einheitliche Strafvollzugsgesetz von 1977 hat die Resozialisierung der Häftlinge in den Vordergrund gerückt. Das gilt bis heute, auch nach der Justizreform, die den Ländern eigene Gesetze ermöglicht hat. Rheinland-Pfalz hat seit 2013 ein eigenes Landesgesetz. Natürlich ist die Sicherheit der Bevölkerung noch immer wichtiges Ziel. Die Behandlung der Strafgefangenen hat aber einen wesentlich größeren Raum erhalten. Wie sieht das konkret aus?Conrad Heute gibt es viele Fachdienste, also zum Beispiel Sozialarbeiter und Psychologen, die mit den Menschen arbeiten. Früher gab es nur einen Fürsorger, der sich um Entlassung, Personalausweis, Wohnung und ähnliche Dinge gekümmert hat. Die Arbeit an den Defiziten, die dazu geführt haben, dass die Leute in Haft kamen, das gibt es erst seit Mitte der 70er Jahre.Hat das zu weniger Rückfällen geführt?Conrad Mit Sicherheit. Aber natürlich sind die Rückfallstatistiken manchmal etwas undurchsichtig. Was ist ein Rückfall? Wenn jemand einen Raubüberfall begangen hat und danach durch Diebstahl auffällt, oder wenn ein vormaliger Vergewaltiger mit Fahren ohne Fahrerlaubnis auffällt, wird das in manchen Statistiken als Rückfall gelistet. Tatsächlich hat man es geschafft, ihn durch Antigewalttraining davon abzubringen, seinen Frust durch körperliche Gewalt abzubauen. Unter diesem Gesichtspunkt belegen die Zahlen, dass wir auf einem guten Weg sind. Aber natürlich gibt es auch Persönlichkeiten, die sich nicht ändern wollen. Eine gute Resozialisierung ist der beste Opferschutz. Es ist gut, wenn den Tätern geholfen wird, um sie vor einem Rückfall zu bewahren. Aber noch wichtiger ist es, an die Opfer zu denken. Jede Straftat, die verhindert wird, erspart Opfer. Das muss die Zielsetzung eines modernen Strafvollzugs sein. Fernseher und Kühlschrank im Zimmer. Kritiker bezeichnen JVAs als Hotelbetriebe. Ist der moderne Strafvollzug wirklich noch eine Strafe?Conrad Ja. Setzen Sie sich mal in einen Raum, die Tür geht zu, und Sie sind auf wenigen Quadratmetern eingesperrt. Sitzen Sie da mal viele Stunden, bevor am Morgen jemand kommt und Sie für den Arbeitseinsatz oder in die Freistunde rauslässt. Inzwischen gibt es Einzelbelegung. Früher waren Gemeinschaftsräume üblich. Da gab es natürlich auch mehr Abwechslung. Gerade die neuen und sehr funktional gebauten Anstalten ähneln Vollzugsfabriken mit viel Beton, langen Gängen, viel Stacheldraht und wenig Grün. Die alten Gefängnisse hatten zumindest etwas Flair. Auch für die Bediensteten sind die neuen Haftanstalten nicht unbedingt ein freundliches Arbeitsumfeld.Rainer NeubertInterview Strafvollzug im Wandel

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort