Parallelgesellschaft – Mythos oder Realität?

TRIER. Gibt es sie, oder gibt es sie nicht? Alle Welt redet von "Parallelgesellschaften" in Deutschland, doch niemand weiß genau, was das überhaupt ist. Aufklärung ist das Ziel eines Arbeitskreises des Faches Soziologie an der Uni Trier.

"Parallelgesellschaft" - der Begriff scheint messerscharf zu sein. Ein dankbares Thema für Medien und Politik. Endlich mal wieder eine Sachfrage, mit der die Parteien nach all dem Konsens und all den programmatischen Überschneidungen an ihrem Profil feilen können - wie an der Diskussion um Einbürgerungstestes zur Verhinderung eben jener "Parallelgesellschaft" gerade zu beobachten ist. Die Integration von Menschen mit Wurzeln in Einwanderer-Familien ist das Ziel, doch die Wege dorthin sind verschieden. "Leitkultur" und Anpassung, oder doch lieber Toleranz des Fremden und Wahrung des Traditionellen? Bei der Debatte über "Parallelgesellschaften", die vor allem nach der Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh durch einen islamischen Extremisten an Bedeutung gewonnen hat, bleibt eines jedoch außer Acht: Es werden Lösungen für ein Phänomen ausgearbeitet, das bereits als Fakt akzeptiert wird, ohne genau untersucht worden zu sein. Ausgehend von der Fragestellung, ob "Parallelgesellschaften" in Deutschland möglich sind, hat sich daher an der Uni Trier im Fach Soziologie der "Arbeitskreis Migration und Segregation" gebildet. Gefördert wird er von zahlreichen Stiftungen und Kooperationspartnern. Leiterin Andrea Hense und ihre sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich zum Ziel gesetzt, Probleme bei der Integration von Menschen aus Einwanderer-Familien aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, um zum Überdenken von Klischeevorstellungen beizutragen. "Der Begriff der ‚Parallelgesellschaft' hat in den vergangenen Jahren eine ungeheure Popularisierung erfahren. Er scheint eindeutig zu sein, ist aber letztendlich unbestimmt geblieben", sagt Hense. Der Tenor in Medien und Politik sei häufig, dass insbesondere große Teile muslimischer Zuwanderer ohne räumliche, kulturelle und soziale Berührungspunkte in Deutschland lebten. Um diese Behauptung näher zu untersuchen, hatte der Arbeitskreis in diesem Jahr eine Veranstaltungsreihe zum Thema "Parallelgesellschaften" organisiert. Dabei wurde deutlich, dass von einer Abschottung der Muslime in Deutschland in den meisten Fällen nicht gesprochen werden kann. Ein Prozent der Türken lebt in Parallelgesellschaft

Zu kämpfen haben Menschen aus Einwanderer-Familien dagegen häufig mit fehlender Chancengleichheit in vielen Sphären des gesellschaftlichen Lebens - besonders in den Bereichen, wo sie in Konkurrenz zu deutschstämmigen Mitbürgern treten, wie etwa bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche. Die Meinung, Integration sei eine einseitige Anforderung an die Zuwanderer, ist also falsch. Doch es gibt Traditionen in manchen Familien islamischen Glaubens, die einer Eingliederung in die deutsche Gesellschaft hinderlich sind. So erfuhr Andrea Hense von einer jungen Türkin aus der Region, die in ihr Heimatland zwangsverheiratet wurde - ohne dass der Fall publik wurde. Dass der überwiegende Teil der Einwanderer in Deutschland tatsächlich in so genannten "Parallelgesellschaften" lebt, hält Dirk Halm vom Zentrum für Türkeistudien in Essen jedoch für einen Mythos. In einem Vortrag über die Alltagssituation türkischstämmiger Menschen in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit der größten türkischstämmigen Gemeinde in Deutschland, stellte er die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung vor. Demnach gibt es zwar eine immer deutlichere Abgrenzung im Bereich der Religion - aber nur ein Prozent der Befragten leben in einer echten "Parallelgesellschaft". "Der Umgang mit diesem oft gebrauchten Begriff erfordert eine weit größere Differenzierung, als das zur Zeit der Fall ist", folgert Halm. Fazit: die Parallelgesellschaft ist kein reines Hirngespinst, aber sie entspricht weit weniger häufig der Realität, als dies in Medien und Politik vermittelt wird. Infos zum Arbeitskreis: Telefon 0651/201-2728, E-Mail hense@uni-trier.de.

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