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BERLIN. Minus 9,2 Prozent bei der Europawahl: Die SPD ist in eine regelrechte Schockstarre verfallen. Von Kanzler Gerhard Schröder kommen Durchhalteparolen.

Ausgerechnet am Tag nach dem beispiellosen Wahldebakel für die SPD veranstaltete die Mitglieder-Zeitschrift "Vorwärts" ihr traditionelles Sommerfest in einem Berliner Szene-Treff. So war die Stimmung zwangsläufig gedämpft. Nur Parteichef Franz Müntefering suchte den Anwesenden mit einer launigen Rede Zuversicht einzuhauchen. Er sprach von schwierigen Zeiten, und davon, dass für die alte Tante SPD auch wieder bessere Tage kommen werden. Der Hoffungsträger beschloss seine Ausführungen mit einer Art Galgenhumor: "Glück auf, es geht voran, die Sozialdemokratie lebt." Letzteres gilt für die SPD zweifellos. Aber auf eine Art und Weise, die Müntefering nicht gefallen kann. Nachdem sich bei vielen Genossen die Schockstarre vom Sonntag gelöst hat, ging gestern vieles wild durcheinander. Der Ruf nach einer neuen Politik war genau so zu hören wie die Forderung nach einem neuen Kabinett. Überdies wurden Forderungen nach einer höheren Erbschaftssteuer sowie der beschleunigten Einführung der Bürgerversicherung laut. Und auch an Personalkritik herrschte kein Mangel. Ein "Weiter so" dürfe es nicht geben, warnte der SPD-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Franz Maget. Aus Niedersachsen und Bremen kamen ebenfalls starke Töne. "Wer für eine KabinettsUmbildung keine Notwendigkeit sieht, der verkennt die Zeichen der Zeit", schimpfte der Kieler Fraktionschef Lothar Hay in Richtung Kanzler. Als "Schwachstellen" bezeichnete Hay Verkehrsminister Manfred Stolpe und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Auch die Sitzung der SPD-Bundestagfraktion erwies sich gestern als vermintes Gelände. In einer Tischvorlage hatten die Genossen die Besorgnis erregenden Zahlen der Europa- und Thüringen-Wahl noch einmal schwarz auf weiß vor Augen. "Da wird Frust abgelassen", prophezeihte ein Abgeordneter. Hinter verschlossenen Türen bemühte sich der Kanzler, die Debatte in geordnete Bahnen zu lenken. Vor der Fraktion sagte er: "Wir können und wir dürfen unsere Grundlinie der Politik nicht ändern." In Sachen Kabinettsumbildung hielt sich der Regierungschef bedeckt. Er gab nur zu verstehen, dass die Kritik an einzelnen Ministern auch auf ihn zurückfällt. Ansonsten, so der Eindruck von Ohrenzeugen, schien Schröder den Dingen weit entrückt zu sein. Die meiste Zeit verwendete er auf einen Exkurs über jüngste außenpolitischen Ereignisse wie den G-8-Gipel in den USA und die Feierlichkeiten zum "D-Day" in Frankreich. Zuvor hatte Franz Müntefering noch demonstrativ den Thüringer Spitzenkandidaten Christoph Matschie gelobt, der das "Bestmögliche" aus der Situation gemacht habe.Verlorenes Vertrauen, mangelnde Glaubwürdigkeit

Derlei Durchhalteparolen waren nicht nach jedermanns Geschmack. In der anschließenden Diskussion beklagte der nordrhein-westfälische Abgeordnete Willi Brase die wachsende Resignation in der Partei. Es gebe Probleme, Leute in Veranstaltungen zu bringen oder für das Kleben von Plakaten zu gewinnen. In Nordrhein-Westfalen sind im September Kommunalwahlen, bei denen die Genossen ein weiteres Debakel befürchten. Andere Abgeordnete wie der Thüringer Carsten Schneider übten Kritik an den Regierungsstrukturen für den Aufbau Ost. Um das Thema kümmere sich nur eine "kleine Abteilung" im Bundesverkehrsministerium. Die meisten der rund 25 Diskussionsbeiträge warfen bohrende Fragen auf, wie etwa die nach dem guten Abschneiden der Grünen oder dem Verhalten der Gewerkschaften gegenüber der SPD. Wieder andere führten die mangelnde Glaubwürdigkeit und das verlorene Vertrauen ins Feld. "Am Ende", so ein Teilnehmer, "blieb der Eindruck, wir kommen nicht aus der Misere heraus." Auch Franz Müntefering hatte keine erschöpfenden Antworten zu bieten. Dafür will er sich bewusst Zeit lassen. Man "muss die Muße haben, wenn man das so nennen kann, daraus etwas Gutes zu machen", sagte der Parteichef hinterher vor Journalisten. Ende Juni in der letzen Sitzungswoche vor der Sommerpause ist in der Fraktion eine weitere Debatte über den Zustand der Partei anberaumt. Die gestrige Diskussion musste aus Zeitgründen abgebrochen werden.

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