Planung für den Tag X

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff, damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD), schildert in dieser TV-Serie bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

 30. Oktober 1989: Zehn Tage vor dem Mauerfall scheint alles wie immer: Soldaten bewachen die „Staatsgrenze“ der DDR. Doch der Countdown für die große Zeitenwende läuft schon. Foto: Zenit

30. Oktober 1989: Zehn Tage vor dem Mauerfall scheint alles wie immer: Soldaten bewachen die „Staatsgrenze“ der DDR. Doch der Countdown für die große Zeitenwende läuft schon. Foto: Zenit



31. Oktober 1989, Dienstag:

Wir arbeiten auf Hochtouren, aber nicht hektisch. Noch haben wir ja Zeit, denken wir. Bis Anfang Dezember soll das neue Reisegesetz kommen, hat SED-Bezirkssekretär Schabowski gesagt. Außerdem gehen wir davon aus, dass es ein geregeltes Reiseverfahren geben wird. Kein wildes Stürmen der Mauer, wie es dann wenig später stattfindet.

Im Rathaus machen wir in verschiedenen Gruppen Gedankenspiele, was alles passieren kann. Der "worst case", der schlimmste Fall, ist unser Szenario, nicht die glückliche Nacht, die es dann wurde. Flüchtlinge, Staus, Kranke, Vermisste. Darauf wollen wir vorbereitet sein.

Am Morgen ist im Senat förmlich die Einsetzung der Arbeitsgruppe beschlossen worden, die alles planen soll. Mittwoch wird sie zum ersten Mal tagen. Mein Job ist die Information der Berliner. Zusammen mit einigen Mitarbeitern erstelle ich ein Konzept. Darin steht zum Beispiel, dass alle Haushalte 14 Tage vorher vom Regierenden Bürgermeister Walter Momper einen Brief erhalten sollen, um eine positive Einstellung bei ihnen zu wecken. Auch sehen wir "Abende der Begegnung" vor und wollen den Kurfürstendamm für ein großes Volksfest sperren.

All das, so wird sich später zeigen, ist überflüssig. Die West-Berliner werden am 9. November auch ohne mentale Vorbereitung viel freundlicher als erwartet auf die DDR-Bürger reagieren. Und Feste wird es an jeder Ecke spontan geben.

West-Berlin ist auf DDR-Karten ein weißer Fleck. Kein Ost-Bürger weiß, wo er im Zweifelsfall ein Krankenhaus findet oder wie er in die City kommt. West-Stadtpläne sind drüben verboten. Wir planen ein Informationsblatt, das in großer Auflage gedruckt und an den Grenzen ausgelegt werden soll. Mit Stadtplan, Notfalladressen, Anschriften von Museen und Einkaufszentren und vielem anderen mehr. Und natürlich einem Grußwort Walter Mompers. Das Verkehrsamt, unsere Tourismusbehörde, soll zusätzlich mit Informationsbussen überall in der Stadt präsent sein. Ein Pressezentrum für ausländische Journalisten wird vorbereitet. Sogar die Kosten für all das berechnen wir schon: 630 000 Mark. Wir beginnen mit Zeitungsredaktionen zu telefonieren und fragen sie, ob sie bereit sind, kurzfristig ein solches Produkt herzustellen. Die "Berliner Morgenpost" sagt im Laufe der Woche zu und bildet bereits ein kleines Redaktionsteam, mit dem ich mich noch vor dem 9. November treffen werde. Aber noch ist es mit der Reisefreiheit nicht so weit. Die neue SED-Führung ist verzweifelt bemüht, wieder Stabilität zu bekommen. Aus der Politbüro-Sitzung an diesem Dienstag wird berichtet, dass man den "Kurs der Erneuerung festigen" wolle. Mehr Offenheit, mehr Beteiligung soll es geben, aber immer noch unter der Führung der SED.

Der Entwurf eines Reisegesetzes sei besprochen und dem Ministerrat "zur weiteren Behandlung" vorgelegt worden, heißt es - ohne nähere Angaben.

Und Egon Krenz meldet sich aus Moskau. Er sagt zur Frage einer Wiedervereinigung: Sozialismus und Kapitalismus seien auf deutschem Boden nie vereinigt gewesen. Außerdem seien die anderen Europäer wegen der Stabilität des Kontinents dagegen. "Und deshalb sehe ich keinen konkreten Tag voraus".

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